Irgendwie alles Mist: Wie ein Studierender im Lockdown verzweifelt Hochschule | 26.04.2021 |   Till Neumann, Johanna Reich

Student verzweifelt am Laptop

Kaum eine Gruppe stresst der Lockdown so sehr wie Studierende. Nur Erwerbslose trifft es schlimmer. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der AOK Baden-Württemberg. Der Fall eines Freiburger Studierenden unterstreicht das. Er sagt: 99 Prozent meiner Kommiliton·innen habe ich nicht einmal gesehen.

„Am meisten fehlt der Austausch“

Jonas Müller (Name geändert) kennt das Präsenzstudium: Wenigstens ein Semester konnte der 30-Jährige 2019 noch regulär in Freiburg Bildungswissenschaften studieren. Heute ist er im vierten Semester an der Uni Freiburg und hat genauso gute Noten wie früher, aber psychisch zu kämpfen: „Am meisten fehlt mir der Austausch mit den Kommilitonen“, sagt Müller. In Lerngruppen zusammensitzen, sich spontan in der UB verabreden, gemeinsam produktiv sein? Fehlanzeige.

Schmerzlich vermisst er auch etwas ganz Banales, „die Präsenzmöglichkeit, irgendwie mit Menschen zu sprechen“. Vor allem Kleinigkeiten gingen im Distanzstudium verloren. Jemandem schnell was auf einem Arbeitsblatt zu zeigen, „das ist halt alles mit einer empfundenen Hürde verbunden“. 99 Prozent seiner Kommiliton·innen habe er nicht einmal gesehen. Seine Bilanz nach einem Jahr Lockdown: „Irgendwie ist alles Mist.“

Nur Erwerbslose leiden stärker

Wie Jonas Müller leiden viele Studierende: Laut einer AOK-Umfrage fühlen sich rund 56 Prozent der Befragten stark belastet. Sie klagen über Antriebslosigkeit, Einsamkeit und Müdigkeit. Auch die fehlenden Reisemöglichkeiten schlagen ihnen überdurchschnittlich aufs Gemüt. Laut der Studie leiden nur Erwerbslose noch stärker unter dem Lockdown (73 Prozent).

Auch eine Befragung der Uni Freiburg im Sommer 2020 unterstreicht das: Von rund 8500 Studierenden „gaben viele an, dass sie diese Zeit als belastend empfinden“, informiert Rimma Gerenstein von der Uni-Pressestelle. 52 Prozent klagten über fehlende soziale Kontakte, 36 Prozent über mangelnde Selbststrukturierung, 30 Prozent über Stress.

Hilfsbereitschaft ist da

Dennoch kam auch positives Feedback: „Die Studierenden zeigten sich zufrieden mit dem digitalen Semester“, so Gerenstein. Auch Jonas Müller lobt die Albert-Ludwigs-Universität: „Ich war erstaunt, wie schnell die Sachen liefen.“ Obwohl alle am „schwimmen seien“, hätten sich viele bemüht, den Studierenden das Leben leichter zu machen. Die Prüfungskommission habe ihnen sogar einen Freiversuch eingeräumt.

Student Matic Rozman

Berät Betroffene: Matic Rozman

Trotzdem sagt Müller: „Den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen ist einfach gar nichts für mich.“ Regelmäßig falle er in tiefe Löcher. Auch eine Therapie, die er vor dem Lockdown angefangen habe, könne das nicht ändern. „Ich brauche viel sozialen Austausch.“ Ein Studium lebe davon, die Fähigkeit zu entwickeln, Hilfe zu suchen und gemeinsam Probleme zu lösen.

Keiner sucht weniger Unterstützung

Genau das scheinen Studierende derzeit aber nicht zu tun. Die AOK-Umfrage zeigt, dass keine Gruppe so wenig professionelle psychologische Hilfe sucht wie sie. Für die gesamte Bevölkerung sind es 7,5 Prozent, bei den Studierenden nur 1,2 Prozent.

Das merkt auch Matic Rozman von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Freiburg. Statistisch gesehen hätten sich 2020 so viele gemeldet wie im Vorjahr. Doch die Pandemie ist spürbar: „Unser Gesamteindruck ist, dass das Studium unter Corona-Bedingungen bei den überwiegenden Fällen eine enorme Belastungssituation darstellt“, sagt Rozman.

Nach mehr als einem Jahr Distanzlehre ginge vielen Studierenden „die Puste aus“. Er berichtet von Überforderungsgefühlen, Einsamkeit und Zukunftsängsten. Bei den Beratungsgesprächen gibt er Betroffenen auch eine Liste an die Hand mit „zehn Tipps, um alleine zurechtzukommen“. Zum Beispiel: Halte eine Tagesstruktur ein, bewege dich, suche dir Hilfe.

„Unverhältnismäßige Vorsicht“

Wie Distanzlehre gelingen soll, fragt sich auch der Freiburger Uni-Dozent Christian Haber: „Den Studierenden geht es nicht gut.“ Viele seien müde und motivationslos. Digitale Angebote seien gute Hilfsmittel, aber keine Hauptwerkzeuge. Ein Studium nur zu Hause vor dem Bildschirm sieht er kritisch. Auch soziales Miteinander müsse gelernt werden.

Uni-Rektorin: Kerstin Krieglstein

Der 34-Jährige sieht durchaus Möglichkeiten für ein Präsenzstudium. Dafür aber müsse die Regierung die „unverhältnismäßige Vorsicht“ an den Unis zumindest überdenken. Kleine Gruppen im großen Hörsaal seien im Zweifelsfall auf lange Sicht besser als „weiter darauf zu hoffen, dass irgendwann hundertprozentige Sicherheit entstehen wird“.

Doch die Devise für Jonas Müller und viele andere Betroffene lautet: durchhalten. Gerade erst hat Uni-Rektorin Kerstin Krieglstein verkündet: Auch im Sommersemester 2021 bleibt die Lehre an der Uni Freiburg digital. Präsenzveranstaltungen seien erst ab einer Inzidenz von unter 50 denkbar.

INFO
Weniger Austausch über Grenzen

Die Uni Freiburg verzeichnet in Corona-Zeiten einen signifikanten Rückgang bei internationalen Studierenden: Deren Zahl sank im Wintersemester 20/21 im Vergleich zum Vorjahr um rund acht Prozent von 4385 auf 4056. „Das ist zum großen Teil mit dem Rückgang der Immatrikulationen bei Austauschstudierenden zu erklären“, meldet die Uni-Pressestelle. Größte Hürden für internationale Studierende seien Einreiseeinschränkungen, geschlossene Botschaften und Visa-Abteilungen sowie finanzielle Instabilität während der Pandemie. Studierende aus Nicht-EU-Ländern zahlen Studiengebühren von 1500 Euro pro Semester. Das Statistische Bundesamt hat bundesweit für den Zeitraum 2020 auf 2021 sogar einen Rückgang von 21 Prozent berechnet.

Fotos: © iStock.com/fizkes, Christoph Eberle, Universität Konstanz