Freiburgs Blinde tappen – noch – im Dunkeln: Rathaus muss und will mehr tun STADTGEPLAUDER | 11.09.2016

Barrierefreiheit heißt nicht nur freie Fahrt für Rollstuhlfahrer. In Deutschlands alternder Gesellschaft wächst die Zahl der Sehbehinderten rasant: Bis 2030 wird es laut Prognosen im Vergleich zu heute ein Drittel mehr Menschen geben, die nur eingeschränkt sehen. Handeln ist angesagt, denn im Vergleich zu anderen deutschen Städten schneidet Freiburg gar nicht gut ab. In der Innenstadt sind Seheingeschränkte weitgehend sich selbst überlassen. (Der Artikel ist weiter unten als Audio abrufbar.)

Ideal: Die neue Haltestelle Berliner Allee gibt Hoffnung.

Ideal: Die neue Haltestelle Berliner Allee gibt Hoffnung.

Der blindenfreundlichste Ort in Freiburg, Herr Fischer? „Die neue Berliner Allee. Ein Paradies für Tastende.“ Hans-Georg Fischer, stellvertretender Vorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenvereins Südbaden (BSBV), ist selbst blind. „Ich bin ein alter Hase“, sagt der 64-Jährige und meint damit nicht sein Alter. Seine Augenkrankheit, die vererbbare Retinitis pigmentosa, begleitet ihn seit der Geburt. Fischers Netzhaut löst sich auf: „Ich sehe wie durch einen alten schwarzen Putzlappen mit Löchern, die immer kleiner werden.“

Haltestelle Berliner Allee: Fischer steigt aus, lässt seinen Stock mit der kleinen Kugel von links nach rechts über den Bodenbelag rollen – wischen heißt das im Fachjargon. Mühelos ertastet er die Rillenplatten, die ihn bis zur Straßenüberquerung führen. Falls er doch mal vom Weg abkommt, warnt ihn der hohe Bordstein vor den Gleisen. Die Ampel ist schnell gefunden, wird es auf der Straße lauter, geht das regelmäßige Tacken der Anlage automatisch mit. Fischer legt seine Hand auf die Ampel. Sobald diese vibriert, kann es losgehen. Beherzt geht er über die Straße, das neu angelegte Leitsystem bringt ihn sicher bis zur nächsten Häuserfassade, an der er sich orientieren kann. Der ehemalige Telefonist freut sich über die neue Allee, die in Rücksprache mit dem BSBV konzipiert wurde. Blindengerechte Orte wie diese sind in Freiburg bislang aber die Ausnahme.

Freiburg ist keine Wohlfühl-City für Menschen, die kaum oder nichts sehen. Es gibt außerhalb von Tram-Bahnsteigen weder Rillen- und Noppenplatten, keine Leitstreifen, die wie bei der Berliner Allee zu Fußgängerampeln führen. Außerdem keine Möglichkeit, sich akustisch an Haltestellen darüber zu informieren, wann die nächste Straßenbahn kommt oder ob sie vielleicht gar nicht mehr kommt.

Freiburg hinkt anderen, ähnlich großen Städten hinterher: chilli-Recherchen zeigen, dass zwei Drittel der Freiburger Ampeln zwar tacken oder brummen, Karlsruhe, Tübingen und Mainz jedoch deutlich mehr zu bieten haben: In der rheinland-pfälzischen Hauptstadt rüsten die örtlichen Verkehrsbetriebe ihre Haltestellen mit sprechenden Anzeigetafeln aus. In den Innenstädten der drei Städte gibt es Leitsysteme, während Blinde in der Freiburger Altstadt auf sich allein gestellt sind.

Orientierungslos: Wo endet der Fußgängerweg und wo beginnt die Straße?

Orientierungslos: Wo endet der Fußgängerweg und wo beginnt die Straße?

Noch schlechter sieht es für Sehbehinderte aus, neben den Blinden die viel größere Gruppe, die außerdem rasant wächst. Die Berlinerin Elke Lehning-Fricke setzt sich für die Rechte der Sehbehinderten ein. Sie ist selbst sehbeschränkt und leitet in der Hauptstadt den Arbeitskreis Mobilität des Selbsthilfevereins Pro Retina. Lange blieben die Sehbehinderten unbeachtet, so Lehning-Fricke, doch seit ein paar Jahren gebe es mehr und mehr Bewusstsein in der Bevölkerung: „Früher musste ich mich entschuldigen, jetzt entschuldigen sich die anderen.“ Das 2002 in Kraft getretene Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen habe viel angestoßen. Ansonsten gelte: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Es gebe immer eine Gruppe, die am meisten pusht: Erst waren es die Rollstuhlfahrer, dann die Kriegsblinden und später die Gehörlosen: „Jetzt sind wir Sehbehinderten dran.“

Im Gegensatz zu Blinden verlassen sich Sehbehinderte nicht auf den Tastsinn, sondern auf ihr rudimentäres Sehvermögen. Den Betroffenen wäre mit starken Kontrasten schnell geholfen: strahlend weiße Markierungen an Stufen und an Übergängen etwa zu Bächlegräben, helle Rahmen an Glastüren und Unterständen und eine Schriftgröße, die ins Auge sticht. Dass es für Sehbehinderte in Freiburg bislang düster ist, hat übrigens kuriose Gründe: So ist das Pflaster auf vielen zentralen Plätzen denkmalgeschützt. Stärkere Kontraste harmonieren außerdem nicht mit der gewünschten Stadtgestaltung. Schon 2011 hatte das Freiburger Garten- und Tiefbauamt (GuT) festgestellt, dass die Belange von Menschen mit Sehbehinderung bisher wenig Berücksichtigung bei der Gestaltung der öffentlichen Verkehrsräume fanden.

2016, fünf Jahre nach diesem Befund des Tiefbauamts, erwacht Freiburg aus seiner Starre. Die örtliche Verkehrs AG prüft derzeit mit Betroffenen, wie eine App die Situation an den Haltestellen verbessern könnte. Das GuT hat Stadtpläne erstellt, die zeigen, wo was für Blinde und Sehbehinderte getan werden muss. In einem ersten Schritt Richtung barrierefreie Innenstadt sollen Münster-, Rathaus- und Augustinerplatz einschließlich der wichtigsten Zugangswege barrierefrei werden – ein weiteres großes Ziel, das sich Freiburg bis zum Stadtjubiläum 2020 gesteckt hat. Der Gesetzgeber macht Druck: Bis 2022 soll der deutsche öffentliche Nahverkehr komplett barrierefrei sein.

Auch bei der Planung der neuen Fußgängerzone, die sich vom Platz der Universität an der Belfortstraße bis zur Eisenbahnstraße erstrecken wird, denkt das GuT an Menschen mit beschränkter Sicht: „Niedrige Bordsteine und eine geeignete Materialwahl machen für blinde wie sehbehinderte Menschen erkennbar, welche Flächen vom Fahrrad- und Lieferverkehr mitbenutzt werden“, heißt es in einem Konzept für den Gemeinderat. Ob der Platz der Alten Synagoge Fischers neuer Lieblingsort wird, ist fraglich: zu viele Fahrräder und andere Hindernisse. Aber Fischer ist bewusst, wie schwierig es ist, Kompromisse zu finden, die allen gerecht werden. Und Lehning-Fricke weiß, dass man Geduld haben muss: „Wir kommen vorwärts wie Schnecken auf Glatteis, aber immerhin.“

Zielsicher: Hans-Georg Fischer tastet sich über die Kajo.

Zielsicher: Hans-Georg Fischer tastet sich über die Kajo.

Info

Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Blinden und Sehbehinderten. Laut Gesetz ist blind, wer weniger als zwei Prozent sieht. Zu den Sehbehinderten zählen Menschen, die trotz Brillenkorrektur weniger als 30 Prozent sehen. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Finnland, Großbritannien oder Italien, zählt Deutschland seine Blinden und Sehbehinderten nicht. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist in den genannten Ländern die Zahl der sehbehinderten Menschen von 1990 bis 2002 um 80 Prozent gestiegen. Ähnliches ist für Deutschland anzunehmen, wo heute schätzungsweise mehr als eine Million blinde und sehbehinderte Menschen leben. Heruntergerechnet auf  Freiburg wären das etwa 3000 Betroffene. Diese Zahl wächst kontinuierlich. Denn für die Hälfte der Erblindungen ist die altersbedingte Makula-Degeneration verantwortlich, bei der die Netzhaut angegriffen wird. Die Prognose der Gesellschaft deutscher Augenärzte: In 15 Jahren werden aufgrund der demographischen Entwicklung bis zu 30 Prozent mehr Menschen sehbehindert sein – dann wären es in Freiburg schon 4000.

Text: Julia Gnann / Fotos: © Julia Gnann / Audios: Philine Sauvageot

https://soundcloud.com/user-861678699/freiburgs-blinde-faktencheck