Chance oder Gefahr?: Wie Künstliche Intelligenz den Unterricht verändert Digitale Medien | 14.06.2023 | Pascal Lienhard

Eine menschliche und robotische Hand die eine digitale Barriere berühren

Was bis Ende vergangenen Jahres kaum jemandem ein Begriff war, ist heute in aller Munde. Seit der leistungsfähige Chatbot ChatGPT online gegangen ist, wird über seine gesellschaftlichen Auswirkungen diskutiert. Doch was bedeutet die stete Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) für Schulen? Öffnet das Tür und Tor zum Schummeln? Das will f79-Volontär Pascal Lienhard von zwei Lehrern, einer Schülerin und einem Digital-Experten der Bildungsgewerkschaft GEW wissen.

Er erklärt, wie ein Schlauch zu flicken ist, schreibt Gedichte oder einen ganzen Essay. ChatGPT, ein Tool des US-amerikanischen Unternehmens OpenAI, fasziniert Nutzer*innen weltweit. Bereits im Januar hatte der Dienst mehr als 100 Millionen Nutzer. Manche bringt der Chatbot auch auf die Palme: Im April etwa ist ein Song von Drake und The Weeknd viral gegangen. Doch den hatten die beiden Stars noch nie gehört. Geschrieben hatte ihn eine KI. Die Musikindustrie war nicht begeistert.

Eine hitzige Diskussion läuft derzeit über den schulischen Einsatz von ChatGPT und Co. Verstärkt werden die Auseinandersetzungen um den richtigen Umgang mit den neuen Technologien durch Nachrichten wie jene aus Hamburg: Dort haben sich Schüler*innen offenbar von einer KI bei der Abiprüfung helfen lassen. Die Schüler*innenkammer Hamburg fordert eine Reform von Unterricht und Lernen.

Schule der Zukunft

Dass sich Schule und Hausaufgaben grundlegend ändern müssen, glaubt auch Jette Wagler. Die 19-Jährige ist Pressesprecherin des Landesschülerbeirats Baden-Württemberg (LSBR) und berichtet, dass unter Mitgliedern des Gremiums neben Neugierde auch Abneigung und viel Verunsicherung gegenüber den neuen Programmen herrschen. Einige befürchten, dass die Messbarkeit individueller Leistungen durch Programme wie ChatGPT erschwert werde.

Wagler fordert, den Umgang mit den neuen Technologien in den Bildungsplan aufzunehmen. „Das System Schule muss zukunftsorientierter werden und sich schneller an die Errungenschaften unserer Zeit anpassen“, sagt sie. Der LSBR wünscht sich eine Schule, die lehrt, wie man Informationen beschafft. „Projektbasiertes Lernen, Gruppenarbeiten und das Erlernen von Lernmethoden stehen im Mittelpunkt der Schule der Zukunft“, findet Wagler. Das reine Abfragen von Wissen dagegen dürfe nicht länger im Vordergrund stehen.

David Warneck ist Leiter des Arbeitskreises Digitalisierung im Bildungswesen bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Baden-Württemberg. Auch er hält es für notwendig, dass sich das Bildungssystem anpasst. Im Umgang mit KI hält er weder blindes Vertrauen noch kategorische Ablehnung für sinnvoll. Was es brauche, sei „ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der berechtigten Bedenken, aber auch Offenheit und Medienkompetenz, um die ebenso vorhandenen Potenziale angemessen nutzen zu können.“

Porträt: Jette Wagler

Zwischen Neugierde, Abneigung und Verunsicherung: Jette Wagler vertritt den Landesschülerbeirat Baden-Württemberg.

75 Prozent nutzen ChatGPT

Das setzt Patrick Bronner bereits um. Er unterrichtet Mathe und Physik am Friedrich-Gymnasium im Freiburger Stadtteil Herdern. Kürzlich fragte der Lehrer seine Klasse, wer ChatGPT verwende. Rund 75 Prozent der Schüler*innen meldeten sich. Bronner ist das nicht sauer aufgestoßen, er sieht in der KI große Chancen. Tools wie ChatGPT könnten Inspirationen für eigene Gedanken und Ideen liefern.

„Meine Schüler*innen dürfen KI nicht nur benutzen, sie sollen es sogar“, sagt der Pädagoge, der 2016 mit dem Deutschen Lehrerpreis in der Kategorie „Innovativer Unterricht“ ausgezeichnet wurde. In seinen Stunden nutzen Schüler*innen über einen deutschen Anbieter einen datenschutzkonformen Zugang zu ChatGPT. Doch nicht selten produzieren KI-Tools falsche Aussagen. Die Arbeit mit KIs müsse daher in allen Schulfächern thematisiert werden. Bronner sensibilisiert für kritisches Denken im Umgang mit KI-Programmen.

Der 43 Jahre alte Lehrer glaubt, dass ChatGPT die Lernkultur an Schulen grundlegend verändert. Für seinen Unterricht trifft das schon jetzt zu. Wer dort eine GFS absolviert, hält bisher eine digitale Präsentation und gibt ein Handout ab. Ursprünglich war das GFS-Format dazu gedacht, individuelle Leistungen zu ermöglichen. Die ersten Schüler*innen haben bei Bronner das KI-Tool SlidesGPT zur Erstellung von Präsentationsfolien genutzt und lassen sich aus dem fertigen Foliensatz mit dem KI-Tool ChatPDF ein Handout anfertigen. „Als Lehrer benote ich die Leistung der KI, das macht keinen Sinn“, sagt Bronner. Die einzige Chance zur gerechten Notengebung sei ein ausführliches freies Fachgespräch.

Porträt: Patrick Bronner

Inspirationen für eigene Gedanken und Ideen: Patrick Bronner setzt KI im Unterricht ein.

KI lobt sich selbst

Ein Kollege Bronners ist Martin Krahl. Er unterrichtet am Friedrich-Gymnasium Englisch und Geographie. Auch er hat seine Schüler*innen nach ihrer Nutzung von KI-Tools befragt. „In der zehnten Klasse nutzen sehr viele ChatGPT“, berichtet er. Auch in der Kursstufe werde das Tool häufig verwendet. Interessant findet er dort, dass die meisten Schüler*innen KI und ihre Nutzung kritisch hinterfragen.

Im Englischunterricht hat der Lehrer mit Schüler*innen ein breites Spektrum an Artikeln aus dem britischen Medium „The Guardian“ analysiert. Diskutiert wurden sie unter dem Aspekt „KI – Große Chance oder ernste Bedrohung?“ Diese Frage stellte die Gruppe auch ChatGPT. „Die Antwort hat zwar viele Aspekte berührt, aber die kritischen Punkte standen eher im Hintergrund“, sagt Krahl. Das Beispiel zeige sehr deutlich, wie wichtig menschliche Intelligenz bei der Nutzung und Bewertung von KI-Ergebnissen im Unterricht ist. Die Aufgabe der Schule sei es, an solchen zeitgenössischen Themen dranzubleiben.

Für ein Verbot der KI plädieren weder Wagler und Warneck noch Bronner und Krahl. Das würde wahrscheinlich auch wenig bringen. „Der Taschenrechner war in der Schule auch mal verboten“, erklärt Bronner. Das ist schon lange her. An deutschen Schulen dürfen die elektronischen Rechenmaschinen bereits seit den 1970er-Jahren verwendet werden, mit Variationen je nach Bundesland und Schulform. Das behauptet zumindest ChatGPT. In dem Fall liegt das Robo-Hirn richtig: In der Bundesrepublik wurden 1975 an ersten Schulen Taschen­rechner erlaubt.

Fotos: © freepik.com, Jette Wagler, Richard Kiefer – Lichtwerkstatt Kirchzarten