Ich hebe ab: Unterwegs mit dem Gleitschirm Freizeit | 27.03.2020 | Anna Jacob

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Durch die Luft schweben. An einem zehn Meter breiten Schirm hängend. Wie sich das anfühlt? REGIO-Autorin Anna Jacob war neugierig und hat sich zum Schnupperkurs angemeldet. Ein nicht ganz schwindelfreier Erfahrungsbericht.

„Das ist die größte Suppe, die ich seit Jahren hier gesehen habe“, sagt Erwin Zipfel. Er ist mein Fluglehrer und meint damit die Nebelwand, die sich auf, über und unter dem Übungshügel im Elztal aufgebaut hat. Es ist halb zehn in der Früh und es sieht so aus, als müssten wir den Schnuppertag bereits abbrechen. Eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung macht sich in mir breit.

Trotzdem faltet Zipfel den Schirm auf. Ich staune: Zehn Meter breit ist der vierfarbige Schlauch aus Nylon. Es knistert, als Zipfel das große Wirrwarr an bunten Fäden zurechtlegt, bestimmt hundert an der Zahl. Seine Handgriffe sind routiniert, er ist ein Mann vom Fach, ein Veteran der Lüfte: Der 73-Jährige hat vor 40 Jahren das erste Mal einen Drachen in die Hände bekommen und ist dann „nur noch geflogen“. Ob das nicht sehr gefährlich ist? „Mit einer guten Ausbildung, regelmäßiger Flugpraxis und vernünftig betrieben ist das Risiko gering“, findet Zipfel.

Heute ist er der letzte Aktive aus seiner Anfangszeit. Der Sport helfe ihm, fit zu bleiben. 50 Flüge in der Saison schafft er selbst, sonst leitet er Flugschüler wie mich an. Lachend erklärt er: „Ich verbringe nicht viel Zeit mit meinen Altersgenossen, deshalb stecke ich mich nicht mit dem Älterwerden an.“
Plötzlich passiert das Unverhoffte: Ein Sonnenstrahl durchbricht die Nebelschwaden. Es klart auf und der Wind dreht – Starterlaubnis erteilt. Ich schnüre meine Wanderschuhe noch mal fester, während Zipfel mich einweist: „Du läufst wie eine Gestörte den Berg runter, die Arme hältst du ruhig, die Beine rennen.“ Ich wage den ersten Versuch – ausgestattet mit einem Helm und Gurtzeug, das neben den vielen Bändern und Schnallen auch aus einem mit Schaumstoff gefüllten Sitzsack besteht. Ich fühle mich wie eine überdimensionierte Schildkröte. Mit den Händen auf Schulterhöhe starte ich die ersten Schritte.

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In luftigen Höhen: Anna Jacob hat bei Gleitschirm-Veteran Erwin Zipfel einen Schnupperkurs gemacht.

Plötzlich drückt mich eine enorme Kraft an meinen Schultern nach hinten. So müssen sich Zugpferde fühlen, denke ich und presche weiter nach vorne, den Hang hinab, und der Schirm richtet sich tatsächlich über mir auf. Im Augenwinkel sehe ich das bunte Ding und merke, wie mich die Gurte Richtung Himmel ziehen.

Den Boden unter den Füßen verlieren

Zipfel bricht den Start ab und sieht mich verwundert an: „Wenn ich dich nicht gestoppt hätte, wärst du mir schon davongeflogen.“ Er lacht. Ich realisiere, was passiert ist. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, ein Lächeln flitzt mir über die Lippen. Noch mal. Die zwei nächsten Versuche verlaufen mäßig.
Ohne große Hoffnung starte ich Anlauf Nummer 4: Ich kämpfe gegen das Gewicht des taunassen Schirms und steuere anschließend nach links. Auf einmal geht alles ganz schnell: Ich renne weiter und werde immer leichter. Mein letzter Schritt geht ins Leere. Ich hebe ab. Was für ein Gefühl.

Wenige Sekunden später lande ich wieder und laufe noch ein paar Schritte, um den Schwung auszugleichen. „Dein Gesichtsausdruck war Gold wert“, eröffnet mir Zipfel, während wir den Stoff zusammenraffen und er sich den Schirm über die Schulter wirft. Jetzt heißt es: den Schirm bergauf schleppen. Innerlich schmunzle ich über das Bild, das wir abgeben: Ein 73-Jähriger und eine 18-Jährige schnaufen zusammen den Berg hinauf.

Endlich. Den Schirm wieder im Rücken, ein Funkgerät vor der Brust und den Wind im Gesicht, renne ich. Meine Füße verlassen den Boden. „A-Leinen los!“, schreit es von hinten. Gesagt, getan. Ich fliege. Mir entfährt ein euphorischer Schrei: Ich fühle mich ganz leicht, während der Boden unter mir immer kleiner wird. Ich fliege höher und weiter als zuvor. Zipfel schätzt später 200 Meter Strecke und fünf bis sieben Meter in der Höhe.

Ab jetzt habe ich den Bogen raus. Immer und immer wieder starte ich und kraxele hinterher den Abhang hinauf. Ich lerne, wie man Kurven fliegt und aus 200 Metern werden 400 in zehn Metern Höhe. Ein längerer Flug bedeutet aber auch einen härteren Aufstieg. Meine Kraft schwindet mehr und mehr. Die Fäden schneiden beim Tragen in meine Handflächen. Der schleifende Schirm und meine schweren Schritte hinterlassen lange Spuren auf dem Hügel.

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Und wieder geht es den Berg hinauf.

Zipfel leitet den letzten Flug ein. Noch ein letztes Mal wird der Schirm ausgebreitet, die bunten Leinen entwirrt und die Karabiner eingehakt. Bein- und Bauchgurt sitzen, Funkgerät gecheckt. Noch einmal gegen den Wind ankämpfen, dann davongleiten.

Dann der Landeanflug. Meine Füße berühren die Wiese. Plötzlich zack. Bauch voraus, ich liege auf dem Boden. Schildkröte gelandet. Ich höre ein rauschendes „Alles ok?“ aus dem Funkgerät und rappele mich wieder auf. Meine Hose ist nass und dreckig. Doch ich lache nur. Ich bin immer noch voller Glück, als wir den Schirm zusammenlegen. Mit einem breiten Lächeln gehe ich nach Hause.

Info

Im Schwarzwald gibt es zahlreiche Gleitschirmschulen, eine davon ist FreeFly von Erwin Zipfel aus dem Elztal. Saison für Kurse ist von
Mitte März bis Mitte Oktober.
Mehr unter www.free-fly.de

Fotos: © Hubert Gemmert