„Kein Arzt hat mir geholfen“: Wie eine junge Frau mit Tinnitus lebt Gesundheit | 02.04.2021 | Till Neumann

Frau mit Tinnitus

Sting, Phil Collins, Keanu Reeves. Sie alle litten oder leiden an Tinnitus. Doch das schmerzhafte Geräusch im Ohr trifft nicht nur Stars: 1,5 Millionen Menschen in Deutschland haben laut der Berliner Charité chronische Ohrgeräusche. Gerade die Zahl junger Patienten steigt deutlich an. Zu ihnen zählt auch Vreni*. Die Freiburgerin hat das Syndrom seit fast einem Jahr und sagt: Mir hat kein Arzt geholfen.

Es traf sie beim Filmschauen auf der Couch. „Aus dem Nichts kam ein lauter Piepton“, erzählt Vreni. Die 32-Jährige ist im März 2020 heftig erschrocken. Total beängstigend und schmerzhaft sei das gewesen. Ihr Freund saß mit auf dem Sofa, er hat ihn nicht gehört.

Ärzte lassen sie verzweifeln

Warum es sie erwischt hat, weiß die Studentin bis heute nicht. Sie kann nur mutmaßen: Schon vor dem Tinnitus litt sie an Neuralgie. Nervenschmerzen, die sich anfühlten wie Nadelstiche. Und: Rund zwei Wochen vor dem Schockerlebnis schmerzten ihre Ohren, als ihr Zumbalehrer die Musikanlage zu laut drehte.

Porträt Iva Speck

Expertin: Iva Speck von der Uniklinik Freiburg

Was danach passierte, ließ Vreni verzweifeln: Als sie zum Hausarzt geht, interessiert sich der vor allem für ihre Neuralgie. „Ich habe mich allein gelassen gefühlt, es kann nicht sein, dass das alles ist“, berichtet sie. Also ging sie zum Neurologen und zum HNO-Arzt. Auch dort fühlte sie sich nicht ernst genommen. „Sie haben bestimmt Stress“, hätten die Ärzte gesagt und ihr Psychopharmaka verschrieben.

Tinnitus ist behandelbar, verschwindet aber nicht immer vollständig, bestätigt Iva Speck, HNO-Assistenzärztin an der Uniklinik Freiburg. „Wir würden uns auch wünschen, sagen zu können: Hier ist das Medikament, dann ist ihr Ohrgeräusch weg”, sagt die 31-Jährige.  Wichtig sei, den Patienten die Angst zu nehmen und Mythen zu entlarven. „Wenn man googelt, kommt man häufig zu falschen Ergebnissen.”

Uniklinik will „dekatastrophieren“

Speck ist überzeugt: Ärzte können viel tun. Unter anderem behandelbare Ursachen abklären, zum Beispiel, ob ein gutartiger Tumor am Hörnerv vorliegt. Als erfolgversprechenden Ansatz zur Linderung empfiehlt die Uniklinik eine kognitive Verhaltenstherapie: „Die Patienten lernen, mit dem Tinnitus umzugehen”, erklärt Speck. „Dekatastrophisieren” nennt sie das.

Portrait Vreni

Lebt mit Ohrensausen: Die Freiburger Vreni

Die Expertin bestätigt, dass junge Menschen immer häufiger an Hörminderung und Tinnitus leiden. Das liege auch an zu lauter Musik aus Kopfhörern. Sie empfiehlt daher die 60-60-Regel: Höchstens 60 Prozent Lautstärke am Smartphone für 60 Minuten. Ansonsten gelte: Stress rausnehmen.

Den Ansatz verfolgt auch Uwe H. Ross mit seiner Praxis in Freiburg. „Wichtig ist, gelassen zu bleiben“, sagt der 59-jährige Arzt. Habe man eher Gelassenheit statt Ärger oder Angst mit dem Syndrom, steige die Wahrscheinlichkeit, es loszuwerden. Dass der Tinnitus verschwinde, sei jedoch selten. Daher gilt für Ross: „Man muss darauf hinarbeiten, dass er egal wird. Und das kann man lernen.“ Der Mediziner setzt bei seinen Therapien auch auf Hypnose.

Yoga und Spaziergänge helfen

Vreni hat Hilfe erst bei einer Osteopathin gefunden: „Das war der Schlüssel zur Besserung.“ Im Rückblick sagt sie: „Kein Arzt hat mir geholfen.“ Ihr Eindruck ist: „Die Schulmedizin kann mit Tinnitus überhaupt nix anfangen.“ YouTube-Kanäle wie „Zwangs-Neurotiker“ oder „Tinnitus-Sprechstunde“ seien hilfreicher gewesen. Iva Speck empfiehlt zudem die Website der Deutschen Tinnitus-Liga.

Anfangs war der Tinnitus für Vreni eine Qual, nahm ihr die Lebensfreude. Heute kann sie mit ihm umgehen: „Ich höre ihn nur noch abends, wenn ich ruhig sitze.“ Yoga und Spaziergänge helfen. Mittlerweile weiß sie: Wenn es lauter wird, wird es auch wieder leiser.

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