Das gespaltene Land: Streifzug durch die Ukraine Kultur | 26.01.2016

Es ist derzeit nicht jedermanns Sache, aber chilli-Redakteur Till Neumann ist im Oktober eine Woche lang durch die Ukraine gereist. Er besuchte Kiew, Charkow und Dnipropetrowsk – die drei größten Städte des Landes. Manches erinnert dort an Paris, manches auch an die Sowjetunion. Und manchmal fühlt man sich ein bisschen wie im Krieg.

Voller Kontraste: Kiew wandelt zwischen europäischer Metropole und Relikten der Sowjetunion. An Souvenirständen gibt‘s Putin-Klopapier.

Die Ukraine. Nicht gerade ein typisches Touristenziel in diesen Tagen. Man erinnert sich an brennende Barrikaden in Kiew, an Erschossene auf dem Maidanplatz, denkt an die Unruhen im Osten des Landes und an die annektierte Krim. Erst Ende November versammelten sich Kiewer Bürger auf dem zentralen Platz der Stadt. Sie gedachten der blutigen Revolution vor zwei Jahren im Zentrum Kiews.

Am Maidan beginnt auch die Reise. Genauer gesagt im altehrwürdigen Sow-jet-Hotel Kozatskiy. Vom Balkon aus hat man den Brennpunkt der Revolution direkt vor sich, den Maidanplatz. Autos schlängeln sich dort hupend über die vierspurige Straße der 2,7-Millionen-Einwohner-Metropole, im Schein der orangenen Laternen schlendern Fußgänger zwischen monumentalen Bauten über den Asphalt. Den besten Blick hat Erzengel Gabriel. Er thront in 36 Metern Höhe auf der Säule des Maidan. Willkommen in Kiew.

Warmes Wasser zum Duschen gibt’s am nächsten Morgen nicht. Und das Frühstücksbüffet bietet herzhafte Überraschungen: Nudeln, Fleisch, Reis und Gemüse. Die ukrainischen Tischnachbarn bedienen sich reichlich. Zum Glück gibt’s auch etwas Kuchen, Brot und Joghurt. Englisch spricht das Hotel-Personal nur bedingt. Aber irgendwie versteht man sich. Gesprochen wird Ukrainisch oder Russisch. Das Land ist zweisprachig, nahezu jeder versteht beides.

Vor dem Hotel herrscht reges Treiben. Zwischen lässigen Bistros, schicken Cafés und einem McDonald’s treffen sich Jung und Alt. Wäre da nicht die fremde Sprache, man könnte sich in Paris oder Berlin wähnen. Die Stadt lebt und pulsiert. Wiedergewonnene Normalität trotz der brodelnden Konflikte im Donbass. Doch ein paar Meter weiter wird man von den harten Fakten eingeholt: Im Zentrum des Maidanplatzes lebt die Revolution weiter. Mannsgroße Fotos zeigen martialische Bilder der Kämpfe. Vor einem alten VW-Bus stehen Erinnerungstafeln mit Bildern der Gefallenen, die blau-gelbe Landesfahne flackert im Wind, Alt-Revolutionäre sammeln Spenden für Hinterbliebene.

Auch rund herum sind viele Gedenkstätten, Kerzen, Fotos und Blumen erinnern an die rund 100 Erschossenen des Winters 2013/2014. Wer die Scharfschützen auf den Dächern rund um den Maidan beauftragte, ist bis heute nicht geklärt. Ungewiss ist an diesem Sonntag auch noch, dass Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko eine Woche später erneut zum Bürgermeister Kiews gewählt wird. Sonderlich beliebt ist er in alternativen Kreisen Kiews nicht. Er sei korrupt wie viele andere Politiker auch, heißt es.

Nur etwa 15 Gehminuten entfernt liegt ein Szene-Ort, der in keinem Touristenführer verzeichnet ist. Partkom. Ein Partykeller, ein Proberaum, ein Ort des Widerstands. In den Räumlichkeiten treffen sich kreative Köpfe zum Musizieren, Diskutieren und Feiern. Während der Revolution wurden dort Verwundete versorgt. Viele der heutigen Stammgäste standen auf dem Maidan an vorderster Front. So auch der Schlagzeuger Costa, für den sein Land weiter im Ausnahmezustand ist: „Hier ist Krieg“, sagt der 42-Jährige. Unsicher fühle er sich in Kiew aber nicht.

So geht es auch den Touristen. Nachts stolpert man zwar auch mal über bewaffnete Soldaten und Panzer. Doch Kiew kann man erkunden, ohne sich bedroht zu fühlen. Ein Rundgang lohnt sich: Malerische Kirchen wie das St. Michaelskloster recken ihre gold-glänzenden Kuppeln Richtung Himmel. Und Souvenirstände bieten interessante Einblicke: Neben Revolutions-T-Shirts werden Klopapierrollen mit dem Konterfei Wladimir Putins feilgeboten. Wer müde ist, kann sich mit einem Kaffee an kleinen Foodtrucks stärken. Das Heißgetränk gibt’s für etwa 50 Cent. Mittagessen kann man ab drei Euro, Vodka gibt’s für zwei.

Mit dem Nachtzug geht es weiter in die zweitgrößte Stadt des Landes Charkow. Es empfiehlt sich, ein Schlafabteil für zwei Personen zu nehmen. In den Massenlagern sind Sauerstoff und Platz Mangelware. Eiskalte Luft kann man dafür am frühen Morgen in Charkow atmen. Im Bildungszentrum des Landes leben 1,4 Millionen Einwohner. Bis nach Russland sind es von dort nur 40 Kilometer, bis ins umkämpfte Donezk 300.

Absolut sehenswert ist die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale. Die rot-ocker gestreifte Fassade sieht aus wie gemalt, der prunkvolle Innenraum glitzert golden wie die Schatzkammer Dagobert Ducks. Dafür ist der mehr als 700 Meter lange Freiheitsplatz im Zentrum gähnend leer. Nur ein Militärzelt steht am Rande, es heißt, dort würden Kämpfer für den Donbass rekrutiert. Eine überaus stilvolle Bleibe in der nur überschaubar touristischen Stadt ist das Hotel 19 (www.hotel19.ua). Dort lässt sich seelenruhig schlafen und ausgezeichnet essen. Im Kühlschrank eines kleinen Ladens um die Ecke lächelt Manuel Neuer vom Etikett einer Bierflasche.

Auf in den Osten: In Charkow stehen Panzer in der Stadt, Dnipropetrowsk lädt mit Uferpromenade und Strand zum Flanieren ein.

Über holprige Straßen geht es mit dem Kleinbus weiter nach Dnipropetrowsk. Die drittgrößte Stadt des Landes hat touristisch mehr zu bieten als Charkow. Die Uferpromenade des Dnepr lädt zum Flanieren ein, am kleinen Strand streckt sich sogar im Oktober ein Badegast. Das Stadtzentrum lockt mit einer netten Einkaufspassage, der Club Moulin Rouge erinnert nicht nur namentlich an Paris. Auch das schwülstige Interieur passt zum französischen Namensgeber.

Entlang dem Dnepr geht’s zurück nach Kiew – in die Stadt der Kontraste: West trifft Ost, Krieg trifft Alltag, funkelnd-modern trifft brüchig-verkommen. Nur eins ist hier zweifelsohne zeitlos: Vodka. Das entsprechende Supermarktregal ist so groß wie hierzulande das für Bier.

Text / Fotos: Till Neumann