Herzschlag der Erde: Earth beats im Kunsthaus Zürich Kultur | 11.12.2021 | Kornelia Stinn

Schneeschönheit mit Gletscherblau: Félix Vallottons Holzschnitt aus dem Jahr 1919 ruft Beklemmung hervor, denn die eisigen Wülste schmelzen, mit dem Klimawandel sind die Alpengletscher auf dem Rückzug. „Hochalpen, Gletscher und verschneite Berggipfel“, Kunsthaus Zürich, Gottfried-Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern, 1979, Foto: © Winfried Stinn

Mit der Ausstellung „Earth beats“ weiht das Kunsthaus Zürich seinen neuen Chipperfield-Bau ein. Naturbilder vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart machen deutlich: Der Herzschlag der Erde ist durch menschliches Einwirken aus dem Rhythmus geraten.

Ein grünes Blatt ist zum Auftakt der Ausstellung zu sehen. Näher betrachtet ist die Wandinstallation von Tony Cragg aus dem Jahr 1983 eine Collage aus grünem Plastikmüll. Ein kritisches Statement? Oder war das Arbeiten mit Müll seinerzeit ein witziges künstlerisches Stilmittel? Heute jedenfalls hat diese Installation eine Wahrheit, die vielleicht in den 80ern noch nicht so deutlich gehört wurde: Sie verweist auf die Bedrohung der Natur. Gleich daneben: Conrad Meyers Schlittenfahrt am Zürichsee, ein Gemälde von 1660. Idylle pur. Aber die Blicke der Betrachter und Betrachterinnen sind infiziert. Wann gabs zuletzt einen solchen Winter? So führt die Ausstellung zum Nachdenken über den Klimawandel. Und der wird am Puls des kränkelnden Planeten – anhand der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde – bis in unsere Zeit künstlerisch vermessen.

Die Ausstellung ist eine Tour de force, denn der Patient Erde hat gelitten und leidet. Erschreckend großflächig sichtbar wird der Klimawandel am stets als „ewig“ gepriesenen Meer der Gletscher. Traurige Hinterlassenschaften von ehemaligen Eisriesen nach dem Abschmelzen macht Herbert Brandl in seinem Ölgemälde „Schwarze Sulm“ von 2013 deutlich. Direkt neben einem Bild von Félix Valloton aus dem Jahre 1919, das noch die Pracht der eisigen Wülste feiert. Das Schaufenster mit Fotos und Tonaufnahmen vom Aletschgletscher macht das Grummeln und Tosen des schmelzenden Gletschers hörbar.

Dunkle Wolken überm Wildbach: Herbert Brandl zeigt in seiner Ölbild-Serie „Schwarze Sulm“ die bedrohte Schönheit der Flusslandschaft in der Steiermark.
„Untitled. From the ‚Black Sulm’ Series‘“, Kunsthaus Zürich, 2015, Foto: © Herbert Brandl

Gletscher, die rumorend schmelzen, aber auch abrasierte Regenwälder und radioaktive Strahlen, mit denen sich lautlos der Tod einschleicht – all dies wird in der Kunst des 20. Jahrhunderts zum Thema. Und wenn doch aus dem verseuchten Erdreich neues Leben aufbricht? Wie das Schaulustige anlockt, die kommen, um womöglich monsterhaft gewandelte Tiere oder Pflanzen zu erspähen, zeigt Anna Jermolaewas Ausstellungsbeitrag „Tschernobyl Safari“. Vis à vis lassen die Zeichnungen von Cornelia Hesse-Honegger erschaudern. Sie spürte Genmutationen bei Korallen und Insekten auf, die auf Einwirkungen von Radioaktivität zurückzuführen sind.

Weltweit schreitet die Zerstörung des Kosmos durch menschliche Einwirkung voran. Wälder fallen der Ausbeutung von Rohstoffen zum Opfer. Oliver Resslers Video „The visible and the unvisible“ prangert den Handel des globalen Nordens mit Rohstoffen an, für die der globale Süden ausgebeutet wird.

Hoffnung für den Patienten Erde?

Zwischen all den verstörenden Bildern sind auch Pflänzchen der Hoffnung gesät. Da ist zum Beispiel die Arbeit „Local homes“ von Vaughn Bell. Inspiriert durch eine lokale Hügellandschaft entstand mit einer Kantonsschulklasse ein Biosphärenraum mit einem Pflanzenkosmos in Plastikschalen. Durch eine Öffnung kann man mit dem Kopf in diesen kleinen, heilen Pflanzenkosmos eintauchen. Direkt zur „Verteidigung der Natur“ schritt schließlich Joseph Beuys, als er in dem italienischen Abruzzendorf Bolognano nahe Pescara die ersten 400 Bäume für ein Naturschutzgebiet anpflanzte. Die Gemeinde machte ihn dafür zum Ehrenbürger.

Neupflanzungen von Bäumen fächeln dem Patienten Erde angesichts seiner schaurig schönen Gratwanderung wohltuende Kühlung zu. Francesca Gabiani greift diese Widersprüchlichkeit in ihren Collagen auf. Sie erschafft feurig anmutende, farbintensive Naturkonstrukte, die auf geradezu unheimliche Weise Nähe und Wärme ausstrahlen und zugleich befremden.

Den Abgesang der Ausstellung schließlich bildet ein Chor von Männern in der Landschaft eines stillgelegten Kohlebergwerks. Sie singen die monotonen, ja wehmütig anmutenden Töne, die ihre Arbeit ausgemacht haben. Resonanzen des Seins, wo kein Grashalm mehr wächst. Ein letzter Gruß der Zurückgebliebenen am offenen Grab.

Der fiebrige Herzschlag der sich aufbäumenden Erde wird den Besuchern und Besucherinnen fühlbar. Aug in Aug mit Menschen, die aus Hotspots der Klimaerwärmung ihre Appelle an uns richten, ist er schwer zu überhören. Genau so ist es gedacht. Earth beats!

Chipperfield-Bau
Der von David Chipperfield Architects gestaltete Erweiterungsbau macht das
Kunsthaus Zürich zum größten Kunstmuseum der Schweiz. Nach rund fünf-
jähriger Bauzeit wurde das 206-Millionen-Franken-Projekt in diesem Herbst eröffnet. Als Konstruktionsmaterial kam Recyclingbeton zum Einsatz, der Energiebedarf des Hauses wird vollständig aus erneuerbaren Quellen gedeckt.

Earth beats – Naturbild im Wandel
bis 6. Februar 2022, Kunsthaus Zürich
Es gibt keinen konventionellen Katalog, sondern einen Podcast zur Ausstellung, in dem zwölf Experten und Expertinnen zu Wort kommen, darunter der Ökonomie-
Nobelpreisträger William D. Nordhaus und die Globalisierungskritikerin Vandana Shiva; abrufbar über die Website des Museums.
www.kunsthaus.ch

Foto: © Chipperfield Garten Haller