Lese-Winter: Neuerscheinungen aus der REGIO Kultur | 26.12.2019 | Lust auf REGIO

Bücher

Winterzeit ist Lesezeit: Ein freier Tag auf dem Sofa, Tee, ein paar Plätzchen und ein gutes Buch – mehr braucht es nicht für Tage, an denen es draußen stürmt und schneit und einen nichts in die Kälte zieht.

Wo ist es still?

Herr Fliegenbein ist ein „Held“, den man vom ersten Moment an ins Herz schließt. Und das, obwohl er ziemlich absonderlich ist. Er trägt zu kurze Anzüge, ist extrem lärmempfindlich – selbst das Geplauder seiner Kollegen macht ihn verrückt, von hupenden Autos ganz zu schweigen – und lebt zurückgezogen und sparsam in seiner Wohnung. Am liebsten betrachtet er sein Lieblingsbild: eine menschenleere Alpenlandschaft. Das allein bringt ihn zur Ruhe.

Dann aber gerät seine Welt ganz plötzlich aus den Fugen. Ein Bauarbeiter reißt mit einer Abrissbirne versehentlich ein riesiges Loch in die Wand seiner Wohnung. Und so begibt sich Herr Fliegenbein – seine geliebte Stehlampe im Gepäck und begleitet von einem kleinen Jungen, der ihn genau beobachtet und immer wieder überrascht – auf die Suche nach der Stille. Es wird eine lange Reise. Sie führt ihn zum Eisfischen nach Finnland, in den tiefsten Regenwald, in ein Studio mit der stillsten Kammer der Welt und ins Schweigekloster. Doch die Stille, nach der er sich so sehnt, findet er nirgends.

„Herr Fliegenbein steht für einen Teil in uns, den jede und jeder mehr oder weniger in sich trägt: die Überforderung mit den Erscheinungen, die die Moderne mit sich bringt“, sagt Astrid Göpfrich, die diese liebenswerte Figur ersonnen hat. „Er symbolisiert aber auch eine gewisse Weigerung, sich all diesen Dingen widerstandslos anzupassen.“ Vorbild dafür sei ihr Vermieter aus ihrer Zeit als Studentin gewesen, erinnert sich die Freiburger Autorin: „Er trug immer zu kurze Anzüge und war sympathisch aus der Zeit gefallen.“ Als sie dann an einem Sommertag vor einiger Zeit einen Weberknecht an ihrer Wand entdeckte, habe sie gedacht „Guten Tag, Herr Fliegenbein“. Ihr Protagonist war geboren. Dieser lässt sich auch von vielen Rückschlägen nicht entmutigen, sondern sucht immer weiter.

„Yeah, silence is good, man. It’s like music“, sagt ein amerikanischer Ureinwohner, der ihn in seinem Auto mitnimmt. Stille ist gut. Wie Musik. Doch selbst Vogelgezwitscher ist Herrn Fliegenbein zu laut, und so muss er weiterziehen. Eine bewegende, inspirierende und witzige Suche, die ihn anderen Menschen und schließlich auch sich selbst näherbringt. Und ihn erst dann sein Ziel erahnen lässt, als er begreift, dass der stillste Ort der Welt auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Und dass manchmal nur lautes Lachen hilft, um mit dem Unbill dieser Welt fertigzuwerden.

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Info

Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille
von Astrid Göpfrich
Verlag: Pendo
256 Seiten, Hardcover
Preis: 16 Euro

 

 

Enträtselung eines Dichters

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) begleitet den in Wittnau lebenden Schriftsteller Karl-Heinz Ott schon lange: Als Student der Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft in Tübingen machte er am Wochenende oft Führungen im Hölderlin-Turm, in dem der für viele noch immer rätselhafte Dichter die letzten Jahre seines Lebens verbrachte – nachdem Ärzte der Uniklinik Tübingen bei ihm Wahnsinn diagnostiziert hatten.

Otts erster, 1998 erschienener Roman „Ins Offene“ verweist schon im Titel auf Hölderlins Elegie „Gang aufs Land“, die mit dem Zuruf „Komm! Ins Offene, Freund“ beginnt. Und er wurde mit dem Hölderlin-Förderpreis ausgezeichnet.

Otts lange und intensive Beschäftigung mit dem Menschen Hölderlin, seiner Dichtung und deren Wirkung, hat nun geistreiche Früchte getragen: „Hölderlins Geister“. Ganz unkompliziert beleuchtet der Lang-Essay die Gedankenwelt und das Geschichtsverständnis des Dichters – und trägt zu seiner Enträtselung bei. Er zeigt aber auch, wie gerade das hymnische Pathos dieser poetischen Gedankenwelt von völkischen Blut- und Boden-Ideologen benutzt wurde, etwa von Martin Heidegger. Unbedingt lesenswert. 

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Info

Hölderlins Geister
von Karl-Heinz Ott
Verlag: Hanser, 2019
239 Seiten, gebunden
Preis: 22 Euro

 

 

Die Tor’ macht weit …

Ein Blick auf Martin Graffs Weihnachtsbuch genügt, um zu wissen, dass er mit dem Untertitel „Geschlossene Gesellschaft“ mehr meint als die hierzulande besonders zur Weihnachtszeit für alle familienfremden Menschen fest verschlossenen Haustüren. Der Elsässer Autor erzählt von Menschen auf der Flucht, in Not, die in den zunehmend geschlossenen Gesellschaften keinen Platz finden. Und in den längst verschlossenen Herzen sowieso nicht.

Er schreibt von Menschen auf defekten Schlauchbooten, denen heute die Zuflucht zu lebensrettenden Meeresufern verwehrt wird. Er erinnert an den Schriftsteller René Schickele, der in Badenweiler wohnte und den die Nazis als „elsässischer Jude, Pazifist und Vaterlandsverräter“ zur Emigration nach Südfrankreich zwangen. Er schreibt aber auch von einem Wirt aus Niederweiler, der feststellte, dass es „schon in der Bibel um Weihnachten und Flüchtlinge“ gehe. Und zitiert aus dem Matthäus-Evangelium „Die Flucht nach Ägypten“. Ein wunderbarer Appell an offene Tore und Herzen. 

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Info

Weihnachten: Geschlossene Gesellschaft
von Martin Graff
Verlag: Wellhöfer, 2018
112 Seiten, broschiert
Preis: 14 Euro

 

 

Immer nur ins Leben

Auf dem Dach eines Wohnhauses steht eine Frau in Gärtnerkleidung: Manu. Sie tobt, sie brüllt und wirft Ziegel auf die Straße, wo johlende Voyeure offenbar nur darauf warten, dass sie endlich in die Tiefe springt. Dieses Warten soll einen Tag und eine Nacht dauern – knapp 20 Stunden, in denen sie auch Feuerwehr, Polizei und Presse in Atem hält.

Für eine Handvoll Menschen ist nach diesen 20 Stunden nichts mehr wie zuvor. Der frisch in Manu verliebte Finn etwa gerät in der Zeit des hilflosen Abwartens ebenso aus dem Gleichgewicht wie ihre Schwester Astrid kurz danach: Dann, als sie erfährt, welchen irrtümlichen Anteil ihr bis dahin heimlicher Liebhaber Hannes an Manus Situation hatte.
Und während die Basler Autorin Simone Lappert den Lesern mit viel Esprit, Humor und Sinnlichkeit von dem völlig unangepassten Leben einer höchst eigenwilligen Frau erzählt, stürzt so mancher Weggefährte in eine nicht für möglich gehaltene Freiheit. Wie Manu selbst, die „immer nur ins Leben springen“ wollte.

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Info

Der Sprung
von Simone Lappert
Verlag: Diogenes, 2019
334 Seiten, gebunden
Preis: 22 Euro

 

 

Zwiespältige Freundschaft

Pilar steht auf einem Friedhof und sieht zu, wie die Trauergäste Erde in das Grab mit Claires Urne rieseln lassen. Dabei erinnert sie sich schmerzlich an besondere Details ihrer Begegnungen mit der 20 Jahre älteren Frau, mit der sie eine zwiespältige Freundschaft verband. Tränen fließen erst auf der Rückfahrt nach Freiburg.

Knapp 30 Jahre zuvor, als junge Studentin, hatte sich Pilar rettungslos in diesen Ludwig verliebt, doch dann hatte Claire ihn geschnappt – gleich nach Pilars erster Nacht mit ihm. Damals waren beide Frauen in der gerade entstehenden alternativen Sozio-Kulturstätte Vorderhaus tätig; dort waren sie sich Jahre zuvor begegnet.

Doch es geht in Ulrike Halbe-Bauers „Claire“ weniger um missglückte Liebe als um erlebbare Zeitgeschichte: Sie spannt den Bogen von Claires letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren im Elsass und im Ruhrgebiet über die Lebenswelt von Pilars spanischer Gastarbeiterfamilie in den 1970er-Jahren bis zum Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. 

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Info

Claire
von Ulrike Halbe-Bauer
Verlag: Wellhöfer, 2019
300 Seiten, broschiert
Preis: 14,95 Euro

 

 

Zeitgenosse Grünewald

Der Isenheimer Altar ist mehr als eine der „kostbarsten Ikonen der Kunst in der Oberrhein-Region“, wie die Freiburger Professoren Werner Frick und Günter Schnitzler im Vorwort zu ihrem Sammelband schreiben. Der vom Maler Matthias Grünewald und dem Holzschnitzer Nikolaus von Hagenau zwischen 1512 und 1516 für die Spitalkapelle des Antoniterklosters im elsässischen Isenheim geschaffene Wandelaltar gilt als ein Hauptwerk der deutschen Malerei. Er steht längst im Musée d’Unterlinden in Colmar und wird dort gerade sorgfältig restauriert. Anlässlich des 500. Jahrestags seiner Entstehung veranstalteten Frick und Schnitzler eine Vortragsreihe über seine Bedeutung und Rezeption; die Beiträge sind in dem reichlich bebilderten Buch wiedergegeben.

Es ist eine wahre, oft überraschende Fundgrube für alle Menschen, die sich mit diesem großartigen Werk beschäftigen wollen – und mit der Wirkung, die es in der Bildenden Kunst, der Philosophie und Theologie entfaltet hat: Aber auch in „vielen Schöpfungen der Nachbarkünste“ wie Musik und Literatur. 

 

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Info

Der Isenheimer Altar – Werk und Wirkung
von Werner Frick &
Günter Schnitzler (Hg.)
Verlag: Rombach, 2019
286 Seiten, broschiert
Preis: 48 Euro

 

Einst Im wilden Wald

Von frühzeitlichen Burgen bis zu neuzeitlichen Herrschaftssitzen: In seinem Lese- und Einführungsbuch über Burgen im Hochschwarzwald lenkt der Journalist und Historiker Roland Weis den Blick auf eine Region, deren Befestigungsanlagen nicht so stark im Fokus sind wie die im Rheintal oder im Elsass.
Kaum verwunderlich, denn von vielen der nahezu 40 Burgen im Hochschwarzwald sind nur noch Mauerreste erhalten. Das zeigen die zahlreichen Fotos, die den Text zu jedem Kastell schmücken.

Damit die Fantasie des Lesers nicht ganz alleingelassen wird mit den geschleiften, oft überwaldeten und zugewachsenen Resten einstiger Anlagen, hat Zeichner und Grafiker Carlo Büchner aus Sexau zu den jüngeren Burgen stilisierte Ansichten angefertigt. Sie entführen das Auge eindrucksvoll in frühere Zeiten. Weis fasst den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, dokumentiert archäologische Überreste sowie Indizien und bezieht auch Quellen wie Sagen mit ein. Herausgekommen ist eine Gesamtschau, die Licht in die Besiedelung dieses einst so wilden Waldes bringt. Eine Spurensuche für Entdecker. 

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Info

Burgen im Hochschwarzwald
von Roland Weis
Verlag: Jan Thorbecke, 2019
240 Seiten, gebunden
Preis: 29 Euro

 

 

Foto: © Xsandra