Anerkennung ohne Leistungsdruck – Freiburg macht mit beim Modellprojekt der Schule ohne Noten Pädagogik | 12.12.2023 | Reinhold Wagner

Kind mit beiden Daumen hoch

Die Freien Waldorfschulen machen seit jeher vor, wie es gehen kann. Seit dem Schuljahr 2022/2023 hat das Kultusministerium ­Baden-Württemberg einen Modell­versuch an staatlichen Schulengestartet, bei dem die Schüler·innen der ersten und zweitenKlasse statt Noten Leistungsnachweise in Form von Blümchen oder Farben erhalten. Das soll den Leistungsdruck nehmen und verbunden mit ausführlichem Dialog detailliertere Informationen über die Lernfortschritte der Kinder liefern.

Das Projekt trägt den etwas sperrigen Namen „Lernförderliche Leistungsrückmeldung in der Grundschule“ (LLR). Dahinter verbirgt sich zum einen die Notwendigkeit, Leistung in irgendeiner Weise beurteilen und vermitteln zu können, zum anderen, motivierend und anspornend zu sein, ohne zu sehr Anreiz für Neid oder Wetteifer zu bieten. Damit es nicht beim bloßen Versuch bleibt, wird die LLR wissenschaftlich begleitet und ausgewertet vom Institut für ­Bildungsanalysen Baden-Württemberg. Das unterscheidet sie nochmals deutlich von ihrem Vorgängermodell, dem Testlauf von „Schule ohne Noten“, den die damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) 2013 in Baden-Württemberg startete – und bereits vier Jahre später wieder einstellte.

Der abrupte Stopp erntete viel Kritik. Sowohl der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) als auch viele der beteiligten Eltern und Lehrkräfte pochten auf eine Weiterführung. Darunter auch eine Mehrheit an der damals teilnehmenden Paul-Hindemith-Grundschule in Freiburg. Sie rief sogar eine Petition ins Leben, das bewährte und beliebte Modell fortzuführen. Nun hoffen viele, dass es wenigstens im zweiten Anlauf klappt, das Modell nach dessen Probelauf und wissenschaftlicher Auswertung bei entsprechendem Erfolg und Anklang dauerhaft zu etablieren.

Für den Neustart der Studie wurden nun 35 Grundschulen (GS)  in Baden-Württemberg ausgewählt. Drei davon befinden sich in Freiburg: die GS Clara-Grunwald, Karoline-Kaspar und Paul-Hindemith. Drei weitere liegen im nahen Umfeld: die Schneckentalschule in Pfaffenweiler, die GS Bachheim-Unadingen sowie die GS Silberberg in Bahlingen.

An diesen Schulen sollen die Leistungen der Schüler·innen für die Anfangszeit wertungsneutraler, dafür aber durchaus vergleichbar, nachvollziehbar und für alle verständlich bewertet werden. Die Entwicklung vom Samen über den zarten Halm bis zum stattlich blühenden Pflänzchen, wie es die GS in der Taus in Backnang (Rems-Murr-Kreis) umsetzt, lässt sich gut nachvollziehen. Und bei der Vergabe unterschiedlicher Farbpunkte (Beethoven Gemeinschaftsschule in Singen) kann sich auch jedes Kind rasch ausmalen, was diese jeweils bedeuten – wie etwa bei der Ampel oder den Gürteln im Selbstverteidigungssport. Zusätzliche Erläuterungen und Gespräche unterstützen die Symbolik und eröffnen wesentlich breitere Möglichkeiten der differenzierten Beurteilung, als reine Schulnoten dies vermögen.

Das wissen die Pädagog·innen an den Freien Waldorfschulen. Silke Engesser, Lehrerin an der Freien Waldorfschule Emmendingen, erläuterte jüngst in einem Interview mit der Badischen Zeitung, wie das funktioniert: „Kinder wollen lernen. Dafür braucht es kein Druckmittel. Wir schreiben Textzeugnisse, in denen wir die Entwicklungsschritte unserer Schüler beschreiben. Ihre Neugier zu wecken, motiviert Kinder, aus eigenem Antrieb zu lernen und sich etwas zu erarbeiten.“ Auf die Frage von 4family, ob die beiden Modelle miteinander vergleichbar seien, sagt sie: „Für Waldorfschulen geht es grundsätzlich um mehr als nur keine ‚Noten‘.“ Auch ein „Sitzen bleiben“ gibt es an der Waldorfschule allenfalls freiwillig. Noten gibt es in der Waldorfschule erst ab der neunten Klasse, und auch dann nur parallel zur Beurteilung und um den Schüler·innen einen möglichen Umstieg auf andere Schulen und das staatlich anerkannte Abitur als Abschluss zu ermöglichen.

Mit der Zeugnisvergabe vor den großen Ferien erhielten im Sommer 2023 erstmals die Grundschüler·innen an den Freiburger Schulen Clara-Grunwald (Rieselfeld), Karoline-Kaspar (Vauban) und Paul-Hindemith (Mooswald) sowie an 32 weiteren im Land ihre Leistungsrückmeldungen in der neu eingeführten Form. Und das, so wollte es das Kultusministerium, im einheitlichen Stern­chen-System.

Sandra Kieber, die geschäftsführende Schulleiterin der Paul-Hindemith- Grundschule, sah schon im ersten Versuch das große Potenzial für ihre Schule und resümiert heute: „Zwar hat das Kultusministerium den Versuch damals abgebrochen, unsere Unterrichtskultur haben wir allerdings beibehalten: ‚Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, sondern immer nur mit sich selbst‘. Der Vorteil einer alternativen Leistungsrückmeldung gegenüber einer Notengebung liegt darin, dass nicht das Endprodukt des Lernens, sondern der Lernprozess in kurzen Abständen nach festgelegten Kompetenzen zurückgemeldet wird. Es findet beispielsweise einmal in der Woche die Kindersprechstunde statt, in der die Kinder mit der Lehrkraft ihren Leistungsstand besprechen. Es gibt eine Rückmeldung zum bisherigen Lernprozess, und es wird eine zukünftige Perspektive für den weiteren individuellen Lernprozess festgelegt. Eine Note beinhaltet diese Perspektive nicht. Die Kinder erläutern, was ihnen beim Lernen leicht oder weniger leicht fällt. Das Gespräch wird dokumentiert. Alle paar Wochen bekommen die Kinder eine Rückmeldung über unterschiedliche Unterrichtsinhalte in Form von Kompetenzrastern mit nach Hause. Zweimal im Jahr finden dokumentierte Lernentwicklungsgespräche auf Augenhöhe mit den Schüler·innen, Eltern und Lehrkräften statt. Anschließend gibt es eine schriftliche Kompetenzrückmeldung, in der dokumentiert wird, wie sie die Teilkompetenzen, die im Bildungsplan verankert sind, bis jetzt im Unterricht erreicht haben. Die Schüler:innen und Eltern schätzen dabei, dass sie ihre individuellen Fortschritte und die daraus resultierenden Lernziele nachvollziehen können. Dadurch findet ein inhaltlicher Dialog über Leistung regelmäßig statt. Dies fördert die Lernmotivation und bewirkt eine Verbesserung der Lernkultur, indem sich der Umgang mit Leistungen in der Schule ändert.“

Sebastian Kölsch, Vorsitzender des baden-württembergischen Landeselternbeirats, erzählt, dass es zu Beginn des Modellversuchs vereinzelt Bedenken gab. Die meisten Zweifel seien in der Praxis aber schnell ausgeräumt worden, die Eltern relativ zufrieden. Ein positiver Aspekt sei, so Kölsch, dass „der Schulversuch den Austausch zwischen Kindern und Lehrkräften fördert. Man wird nicht einfach mit einer Note abgespeist, sondern erhält einen differenzierten Bericht.“ Sowohl für die Kinder als auch für die Eltern gebe das sehr viel mehr Aufschluss darüber, wo die Stärken und Schwächen der Kinder lägen.

Pläne für das weitere Vorgehen hat der Landeselternbeirat auch schon: Er will  für die Elternbeiräte der teilnehmenden Schulen ein Netzwerk aufbauen, in dem sich alle untereinander austauschen können. Einen Zwang zur Teilnahme an dem Schulversuch soll es nicht geben. Wer nicht dabei sein will, darf den Schulbezirk wechseln. Das gilt aber auch in umgekehrter Richtung für solche, die an eine teilnehmende Schule wechseln möchten. Für Sandra Kieber und die Paul-Hindemith-Grundschule in Freiburg jedenfalls steht fest: „Wir möchten unbedingt, trotz hohem Arbeitsaufwand, Modellschule bleiben.“

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