Vorzeigequartier mit Fehlern: Ein Experten-Rundgang durch die Gutleutmatten Bauen & Wohnen | 30.08.2019 | Lars Bargmann

Ein Vorzeigeviertel sollte es werden. Was in Freiburg bekanntlich kein Alleinstellungsmerkmal ist. Jahrelang wurde drum gerungen. Auch dieses Schicksal teilt das Neubaugebiet Gutleutmatten im Stadtteil Haslach mit den meisten anderen Entwicklungen in der diskussionsfreundlichen Stadt. Was ist am Ende draus geworden?

Was kann man als Best-practice-Beispiel mit in den neuen Stadtteil Dietenbach nehmen? Was nicht? Ein Quartiersspaziergang mit Baubürgermeister Martin Haag, dem Dietenbach-Projektleiter Rüdiger Engel und Detlef Sacker, dem Freiburger Vorsitzenden des Bunds Deutscher Architekten.

Der Hingucker an der Eschholzstraße, der die Gutleutmatten in Ost und West teilt, ist das neungeschossige Hochhaus des Siedlungswerks, bei dem der Bauträger und auch das Freiburger Architektenbüro Harter + Kanzler als Sieger eines Investorenwettbewerbs gute Arbeit geleistet haben. „Wir wollten ein klares Signal am Eingang setzen“, sagte Haag. Neun Geschosse, die in Freiburg jahrelang für Schnappatmung in Verwaltung und Politik gesorgt hatten, sind für den neutralen Betrachter an dieser Stelle gar kein Problem. Es sollten ursprünglich mal elf werden, aber nach hitzigen Debatten im Gemeinderat und mit Vertretern des Lokalvereins Haslach wurden zwei abgeschnitten. Wer sich ein paar Meter weiter die schon Jahrzehnte stehenden Hochhäuser südlich der Carl-Kistner-Straße anschaut, der muss beim Siedlungswerk-Tower von einem Qualitätssprung – der viel zitierte Quantensprung ist ja im Prinzip nur der kleinstmögliche – sprechen. Das Gebäude hätte ohne Weiteres zwei oder drei Etagen mehr haben können.

Auf der anderen Straßenseite, im Osten des neuen Quartiers, war auch mal ein Hochhaus geplant, das aber vom Kartentisch wieder verschwand. Wie – im Osten des Quartiers – übrigens gleich auch der komplette Entwurf der Büros Kohlmayer Oberst Architekten mit Plankontor S1 aus Stuttgart, die den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen hatten. Man schrieb das Jahr 2010. Damals waren die Stuttgarter in einer Sitzung des 39-köpfigen Preisgerichts als Sieger über die Ziellinie gekommen. „Visionär“, „bestechend“, „innovativ“, „einmalig“ sei der Entwurf, hieß es. Nur vier Monate später mussten die drei Erstplatzierten ihre Arbeiten überarbeiten. Nicht nur eine ihrer Ideen aber rettete sich hernach nicht in die Realität: Etwa die, gar keine privaten Grünflächen zuzulassen und – außer Radabstellplätzen, Müll- und sonstigen Nebenräumen – auch keine Nutzungen in den Erdgeschossen. Das öffentliche Grün sollte sich als Band um die Punkthäuser ziehen. Ein bisschen golfplatzlike.

„Dieser grüne Raum hat sich nicht überall durchgezogen“, sagt Haag defensiv. Es sei im Nachhinein aber richtig gewesen, die Erdgeschosse mit Wohnungen zu planen. Solche Überlegungen ohne Nutzungen in den Erdgeschossen habe es bei der Bebauung des Alten Messplatzes auch schon gegeben, erzählt Engel. Auch dort haben sie sich nicht durchgesetzt. „Es war ein ambitionierter Entwurf, der sich nicht wirklich bewährt hat, der an den Bedürfnissen der Bürger und der Stadt vorbeigegangen ist“, sagt Sacker.
So gibt es heute normale Straßen – nicht zuletzt muss die Feuerwehr durchs Quartier kommen –, viele aufgestellte Nebengebäude für Räder und Müll, ein paar öffentliche Grünflächen wie den zentralen Platz mit Spielplatz, ein paar halb-öffentliche und – wie die Nutzer es schätzen – hier und da auch private Gärten mit Terrassen. Auch wenn die sich mit 659 Quadratmetern im ganzen Quartier (siehe Infobox Seite 11) spartanisch ausnehmen.

Wir gehen im Viertel entlang der vier Punkthäuser zwischen Carl-Kistner- und der Maria-Salome-Buchmüller-Straße, die das Büro Melder, Binkert, Prettner und Kerner für die Stadtbau geplant hat. Sie sollten fünf Geschosse habe, vier sind es geworden. Die Architektur ist stimmig, die meisten Häuser im Quartier haben aber den Makel, dass die Eingänge nicht an den Straßen liegen. „Man weiß gar nicht, wo es reingeht“, und, ja, die Gebäude hätten durchaus auch ein Geschoss mehr vertragen, kritisiert Sacker. Ihm gefällt indes, dass die Gebäude so platziert sind, dass sie zwar diagonal zueinander nur kleine Abstände, frontal aber größere haben. So eröffnen sich für die Bewohner viel unverstellte Blickbeziehungen. Zwei Krähen landen auf einem Dachvorsprung und blicken auf uns runter.

Am westlichen Ende, zum Haslacher Bad hin, zur Freifläche, stehen vier Gebäude, die nicht alle gleichermaßen den besonderen Anspruch an ihre Lage erfüllen. An einem hängt ein Plakat: „Rekordverdächtig: Die vermutlich höchsten Wärmekosten Deutschlands (monatlich 1 Euro/m2).“ An einem anderen: „Schön gerechnet: Stadt Freiburg erfindet neue Energie-Einheit (Euro/m2 statt Euro/kWh.“

Am nördlichen Rand, an der Magdalena-Gerber-Straße, stehen drei Gebäude, die insgesamt gut gelungen sind. Darunter auch das mit sechs Geschossen derzeit höchste Holzmassivhaus des Landes, das die Baugruppe Futur 2 mit dem Architekten Rolf Disch gebaut hat. Am Ende steht wieder das Siedlungswerk-Hochhaus. Zwischen ihm und dem westlichen Nachbarn liegt eine attraktiv gestaltete Freifläche. „Das könnte ein sensationeller Freiraum sein“, sagt Haag. Allein: Er wirkt von der Straße aus wenig einladend, ist offenbar nur bestimmten Nutzern vorbehalten und gegen den Bach abgeschirmt. Warum man den Dorfbach, anders etwa als den Hölderlebach auf dem Moser-Areal an der Bahnhofsachse, nicht einbezogen hat in die Planung, ihn eher ausgesperrt hat? „Wenn Sie baurechtlich das hundertjährige Hochwasser berücksichtigen müssen, dann geht das eben nicht“, sagt Engel. Im Dietenbach soll der gleichnamige indes für die Bewohner erlebbar sein.

Wir „machen rüber“ in den Osten, wo entlang der Eschholzstraße noch gebaut wird. Im Westen hat die Stadtbau mit dem rot verputzten, gefalteten Gebäude eine ansehnliche Architektur zustande gebracht, im Osten wirken die Baukörper nicht so hochwertig. Der Westen ist städtebaulich eher ein bisschen wilder, der Osten trägt die Handschrift einer Blockrandbebauung. Das ist die Handschrift des Drittplatzierten beim Wettbewerb, des Büros Hähnig Gemmeke aus Tübingen mit dem Landschaftsarchitekten Stefan Fromm aus Dettenhausen, der anstelle des Siegers zum Zuge kam.

„Der Lärmschutzriegel an der Straße könnte insgesamt freundlicher sein, das ist nicht so toll“, kommentiert Haag. Wir laufen vorbei an der leicht rot getünchten Fassade von einem der drei Projekte, die das Mietshäusersyndikat gebaut hat. Und auf ein Ensemble der Stadtbau zu. „Gute architektonische Gestaltung ist auch bei großen Gebäuden möglich“, lobt Sacker beide Bauten.

Das Mietshäusersyndikat hat seine drei Häuser weiß verputzt und ist dann mit einer speziellen Technik in drei unterschiedlichen Farbtönen oberflächlich noch mal drüber gegangen. Das hat durchaus Wiedererkennungswert. Das Stadtbau-Projekt im Osten ist vier- bis fünfgeschossig, hat ein mächtiges Volumen, wirkt aber trotzdem an keiner Ecke klotzig und umstellt einen äußerst gelungenen Innenhof. Insgesamt hat die kommunale Wohnungsbaugesellschaft im neuen Vorzeigequartier in vier Bauabschnitten für 50 Millionen Euro 155 neue Wohnungen – knapp 100 öffentlich gefördert – und die Kita Grundsteine mit 90 Plätzen gebaut. Ein wichtiger Player bei der Entwicklung.

Auf den Gutleutmatten sind rund 500 Wohnungen entstanden, mehr als 200 sollen öffentlich gefördert sein, gut 70 preisgebunden, 25 sind als öffentlich geförderte Eigentumswohnungen verkauft worden. Auch wenn Rechtsamtsleiter Matthias Müller bei einer Stadtbau-Veranstaltung sagte, das sei ein „Vorbild für Dietenbach“, fehlten aufgrund eines Gemeinderatsbeschlusses aus Mai 2105 immer noch zehn Prozent geförderte Mietwohnungen – was im Dietenbach 3250 wären.

Den Übergang vom Stadtbau-Projekt zur bereits bestehenden Bebauung an der Straße Am Radacker im Südosten ist mit dreigeschossigen Reihenhäusern flacher, wirkt privater. Ein Bewohner kommt sogleich auf die chilli-Fotografin zu und belehrt sie, dass sie nicht einfach Menschen und ihre Gärten fotografieren könne. Für wen überhaupt die Fotos gemacht werden?
Das Gespräch dauert nicht lang. Ganz anders als die Entwicklung des gut zehn Fußballfelder großen Areals (siehe Faktenkasten) zwischen Gartenstadt und Feuerwehr, zwischen Haslacher Hallenbad und Bahnlinie.

Im Jahr 2012 sollten die ersten Bagger schon anrollen. Im September 2013 hatte der Gemeinderat dann den finalen Bebauungsplan verabschiedet und in den folgenden zwei Jahren passierte – nichts. Das Rathaus begründete mit „komplexen Vorgaben“ und mit der „komplizierten“ Vergabe der 37 Baugrundstücke – für die es, so Engel, zehn Mal so viele Kaufwillige gegeben habe. Für ein Grundstück im Westen des Quartiers habe es 28 Bewerbungen gegeben. Das komplizierte Vermarktungskonzept hatte das städtische Liegenschaftsamts eigens auf die Beine gestellt. Demnach gab es etwa Sonderpunkte für barrierefreie oder rollstuhlgerechte Wohnungen, für Sozialwohnungen, für preisgebundene Einheiten, für Ideen, um den Autoverkehr zu reduzieren. Offenbar ein Erfolg mit Kehrseite: An einer Tiefgarage hängt seit Monaten ein Plakat: Tiefgaragenplätze zu vermieten. Die zweite Kehrseite: Um Punkte einzuheimsen, sind relativ viele kleine Einheiten gebaut worden.

Wirtschaftlich wurde das Quartier über ein Treuhandkonto bei der LBBW Immobilien Kommunalentwicklung GmbH abgewickelt – und mit einer schwarzen Null: 25,2 Millionen Euro haben Grunderwerb, Bebauungsplan, Ablösen und Ausgleiche für die einstigen Kleingärten sowie die Erschließung gekostet, knapp 25 kamen durch Verkaufserlöse und Zuschüsse wieder rein. Die für die Bebauung maßgebliche Geschossflächenzahl liegt auf den Gutleutmatten knapp unter 1,4. Zum Vergleich: Bei der Solarsiedlung an der Merzhauser Straße und teilweise auch im Vauban liegt sie bei 1,7, erzählt Engel.

Was fehlt im neuen Vorzeigequartier, das bis ins 18. Jahrhundert noch Weidefläche des Freiburger Gutleuthauses war? Jedes Angebot zur Nahversorgung. „Gutleutmatten sollte das Stadtteilzentrum Haslach stärken“, begründet Haag. Heute aber wären viele Gutleutmattener froh, wenn sie einen Bäcker oder ein Café hätten. „Mit der Zeit empfinden die Bewohner es als Mangel, dass es hier nichts gibt. 500 Wohnungen brauchen bestimmte Angebote“, räumt Haag ein.

Auf dem Rückweg an die Eschholzstraße kommen wir noch an einem noch nicht ganz fertigen Gebäude vorbei. Der Journalist spricht abgewandt mit seiner Fotografin. Hört aber dennoch zu. „Das könnte man noch mal abreißen und neu bauen“, sagt einer der drei Experten. Als der Journalist sich umdreht, heben alle ihre Hände. Öffentlich will das keiner gesagt haben.

INFO

Gutleutmatten –
die Flächenbilanz
Gesamtfläche: 81.600 m2
Bauland: 41.200 m2
Bachaue: 14.000 m2
Verkehrsfläche: 9500 m2
Öffentliches Grün: 21.500 m2
Wohnfläche: 40.500 m2
Car-Sharing: 88 m2

Foto: © Neithard Schleier, rum