Dory Sontheimer fand ihre Freiburger Vergangenheit in sieben Kisten STADTGEPLAUDER | 12.11.2016

Dory Sontheimer kam 1946 in Barcelona zur Welt – und bis zu ihrem 56. Lebensjahr hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, dass sie einmal ein Buch schreiben würde. Aber vorher kannte sie die ganze Geschichte ihrer Familie auch noch nicht. Sie wusste nur, dass ihre Eltern aus Deutschland stammten, dass die Mutter 1934 als 22-Jährige von Freiburg nach Spanien ausgewandert war. Doch bis zu deren Tod im Jahr 2002 ahnte sie nichts von den Hintergründen dieser Emigration.

Dory Sontheimer

Dory Sontheimer

Als Kind hatte sie auf Fragen nach den Freiburger Großeltern stets die Antwort erhalten, dass sie „im Krieg gestorben“ seien. Auch bei einer Reise in den Schwarz­wald wurde nicht über sie gesprochen. Dass sie in der Moltkestraße 40 gewohnt hatten, erfuhr sie erst, als sie nach dem Tod der Mutter auf dem Speicher sieben Kisten fand, in denen Bilder, Briefe, Schrift­wechsel mit deutschen Behörden und andere Dokumente aufbewahrt waren.

Sie stieß auf Material, aus dem hervorging, dass sie zu einer jüdischen Familie gehörte. Und dass ihre Großeltern Lina und Eduard Heilbrunner zusammen mit Urgroßvater Abraham Levi am 22. Oktober 1940 in das südfranzösische Internierungslager Gurs verschleppt worden waren. Sie fand Schrift­wechsel, die offenbarten, wie sehr sich ihre Eltern Rosl und Kurt Sontheimer um die Rettung dieser drei Menschen bemüht hatten.

Und ein Bild, das die Eltern bei einem Aufenthalt in den Pyrenäen zeigt, wo sie versucht hatten, die Großeltern über die Grenze zu holen. Vergeblich: Dory Sontheimer fand auch eine Mitteilung des Karlsruher Amtsgerichts, die deren Tod in Auschwitz bestätigt.

Moltkestraße 40: Die Stolpersteine für Dory Sontheimers Großeltern Eduard und Lina Heilbrunner.

Moltkestraße 40: Die Stolpersteine für Dory Sontheimers Großeltern Eduard und Lina Heilbrunner.

„Nächtelang“ habe sie sich in den folgenden Wochen mit dem erschütternden Inhalt der Kisten auseinandergesetzt, neben ihrer Berufstätigkeit als Apothekerin „jede freie Minute genutzt“, um die Puzzlestücke ihrer eigenen Familiengeschichte zusammenzufügen. Sie nahm Kontakt zu ihren bisher unbekannten, durch die NS-Verfolgung auf der ganzen Welt verstreuten Verwandten auf. Und reiste nach Freiburg, wo sie endlich die Wohnung ihrer Großeltern betreten durfte – auf Einladung der freundlichen WG, die jetzt dort lebt.

Und dann entschloss sie sich, die Geschichte aufzuschreiben. Es ist ein dokumentarisches, aber auch sehr persönliches Buch geworden. Es zeigt die unmittelbaren Folgen, die der mörderische Antisemitismus bis heute für die betroffenen Familien hat.

Verónica Köhler, die vor mehr als 40 Jahren auf der Flucht vor der Pinochet-Diktatur von Chile nach Freiburg kam, hat es durch Zufall entdeckt. Jetzt bräuchte es noch einen Verlag, der dafür sorgt, dass es ins Deutsche übersetzt wird. Damit der Stadt Freiburg ein neues Teil ihrer Geschichte zurückgegeben werden kann.

Text: Erika Weisser / Fotos: © L’Illa dels Libres, Erika Weisser

Las siete Cajas (Die sieben Kisten)
Dory Sontheimer
Verlag: CIRCE Ediciones
Barcelona 2014
5. Auflage: 2016
312 Seiten, Broschur
Preis: 20 Euro