Kunst als Lebensrettung: Catherine Meurisse verarbeitet den Anschlag auf Charlie Hebdo Kultur | 20.12.2016

„Wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen“. Vielleicht hat Catherine Meurisse vor den 7. Januar 2015 nicht sehr intensiv über diesen Satz von Friedrich Nietzsche nachgedacht. Vielleicht auch gar nicht, kannte ihn womöglich nicht einmal. So wie die meisten Menschen, die noch nie die Erfahrung machten, dass sie an einer Wahrheit zugrunde gehen müssten, die Realität nicht ertragen könnten.

Catherine Meurisse hat diese Erfahrung gemacht: Weil sie schlecht geschlafen und den Bus verpasst hatte, kam sie an jenem Morgen zu spät zur Redaktionskonferenz des satirischen Pariser Wochenmagazins „Charlie Hebdo“. Und stand draußen, hörte die Schüsse drinnen. Und wäre schier daran zerbrochen. Wenn sie sich nicht auf die Suche nach Kunst, nach Schönheit gemacht hätte. Die sie schließlich fand – und die sie rettete, sie „wieder lebendig“ machte. Deshalb hat sie Nietzsches Zitat an den Anfang ihrer Geschichte, ihrer Graphic Novel gestellt.

Darin verarbeitet die Zeichnerin, die bei zehn Jahre lang bei „Charlie“ arbeitete, ihr ganz persönliches Erleben während des Überfalls der beiden islamfanatischen Brüder, der sich demnächst zum zweiten Mal jährt. Sie zeichnet ihre Gefühle während des Massakers unter ihren Freunden und Kollegen. Und, vor allem, ihr Empfinden, ihre Gefühle danach. Denn da war zunächst gar nichts mehr: Nachdem sie und die anderen Überlebenden mit Mühe und Not wenige Tage nach dem Anschlag noch eine Ausgabe des Magazins fertig gestellt hatten, verlor sie das Gedächtnis. Und jegliche Erinnerung daran, dass sie überhaupt einmal Empfindungen gehabt hatte.

Gleich auf den ersten Seiten ihres Buches, dessen Übersetzung ins Deutsche soeben erschienen ist, wird dieser Zustand der „Dissoziation“ deutlich: Da stapft sie durch die Dünen an Atlantik und sagt, dass sie nichts höre, dass ihr Köper abwesend sei, dass ihr sei, „als sähe ich den Ozean zum ersten Mal“. In ihren Zeichnungen geht sie durch Wände, durch ein entvölkertes, entbildertes Museum – einzig Edvard Munchs „Schrei“ hängt als farbiges Fanal an der grauen Wand. Sie kann nicht mehr zeichnen, merkt dann aber, dass sie sich zeichnen muss, um sich wieder zu finden. Denn die Suche nach sich selbst war – auch an vertrauten, gar geliebten Orten – vergeblich gewesen. Und so zeichnet sie zum ersten Mal in ihrem Leben sich selbst, ihre Umgebung, ihre Gedanken, ihre Versuche, „wieder so lebendig zu werden wie vorher“.

Es ist ein unglaublich gutes, wenn auch bedrückendes und sehr aufwühlendes Buch geworden, in der Meurisse ihre diversen Therapieversuche – durchaus selbstironisch – thematisiert, in dem sie sich als Ertrinkende zeichnet, als vor Leid Zerfließende, als von den allenthalben auftauchenden „Je-suis-Charlie“-Parolen Irritierte. Als Suchende, die mit Hilfe des Stendhal-Syndroms „das Syndrom des 7. Januar auszulöschen“ – also mit einer Überdosis an Schönheit, die sie „in Ohnmacht stürzen und dann wiedererwecken“ soll.

In wunderbarer Übereinstimmung von Bild und Text zeichnet sie ihre Wege durch die Villa Medici in Rom, für die sie ein Aufenthaltsstipendium bekommt. Und beim langsamen Herantasten an Erinnerungen und Wahrnehmungen werden auch ihre Zeichnungen zusehends farbiger, machen die am Anfang vorherrschenden wilden, chaotischen Kritzeleien und die minimalistischen, düsteren Bilder wahren Kunstwerken Platz, in denen auch wieder helle Töne erscheinen.

Der Freiburger Comic-Buchhändler Ulrich Pröfrock hat dieses ungewöhnliche Werk sehr einfühlsam und behutsam übersetzt – und es ist ihm, wie er sagt, sehr nahe gegangen. Das chilli berichtete davon in der Oktoberausgabe 2016.

Freiburger übersetzt Comic zu Anschlag auf Charlie Hebdo

Text: Erika Weisser / Bilder: © Carlsen Verlag/Catherine Meurisse

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Carlsen, 2016
135 Seiten, gebunden
19,99 Euro