Exklusives, Skandalöses und Aufweckendes: Ein Rückblick auf ein paar Highlight-Storys aus 20 Jahren STADTGEPLAUDER | 25.04.2024 | Lars Bargmann
Am 17. April 2004 war es so weit: Die erste chilli-Ausgabe kommt – zur Premiere kostenlos – auf den Markt. Und buddelt unter anderem eine Geschichte zu Fake-Kandidaten bei der Freiburger Kommunalwahl 1989 aus. Eine kleine Reise durch 20 Jahre Stadtmagazin für Freiburg.
In unserer Titelgeschichte „Kunstobjekt Körper“ thematisieren wir im Februar 2005 erstmals mit durchaus nackten Tatsachen die Tattoo- und Body-Modification-Szene in Freiburg. Und kriegen haufenweise Leserpost.
Im April 2006 feiern wir unser Zweijähriges mit dem Aufmacher „Das Flurstück 3315/1“. Ein Winzer aus Ballrechten-Dottingen war wegen eines umstrittenen Grundstücksdeals gegen seinen Bürgermeister Christof Nitz bis vor den Bundesgerichtshof gezogen. Die spektakuläre Exklusiv-Geschichte wird von mehreren baden-württembergischen Tageszeitungen aufgegriffen. Die dubiose Angelegenheit findet in diesen Tagen vor dem Landgericht Freiburg ihre Fortsetzung.
Im Juni 2008 bringen wir die Exklusiv-Geschichte „Bestechlichkeit im Bau“. Oberstaatsanwalt Wolfgang Maier bestätigt dabei die chilli-Information, dass die Staatsanwaltschaft gegen einen Gefängnis-Wärter wegen Bestechlichkeit und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt. Andere Medien ziehen nach.
Im Dezember 2009 bestätigt Oberstaatsanwalt Maier erneut chilli-Informationen: „Ja, bei uns liegt eine Strafanzeige gegen den Leiter des Freiburger Ordnungsamts vor, wir haben die Kripo gebeten, zu ermitteln.“ Wir bündeln die exklusiven Hintergründe im Aufmacher „Amt für öffentliche Willkür?“ Amtsleiter Walter Rubsamen schweigt.
Als erstes Medium in Freiburg küren wir im Mai 2010 die „50 wichtigsten Freiburger“. Natürlich sind längst nicht alle über ihre Platzierung glücklich. Und uns unterläuft ein Fauxpas: Wir vergessen den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der 1942 in Freiburg geboren wurde. Die Geschichte wird bis zur Expo nach Shanghai gemailt.
Häufiger als uns lieb ist versuchen in der Folge Anwälte, den Druck von exklusivem Material zu verhindern. In der Geschichte „Erpressung nach Erotik“ im Juni 2010 über eine Freiburgerin, die einem Geschäftsmann bis zu unserer Veröffentlichung schon sechsstellige Beträge wegen einer angeblichen Schwangerschaft abgepresst hatte, schaltet sich kurz vor der Drucklegung der Rechtsbeistand ein, fordert eine Unterlassungserklärung und droht mit Einstweiliger Verfügung. Wir drucken.
Wir können aber auch ironisch: Im Februar 2011 titeln wir: „Kiez-Größe kauft Arena-Bar“. Die frei erfundene Story zieht weite Kreise. Im Ältestenrat der Stadt Freiburg echauffiert sich – mit dem chilli in der Hand – ein Fraktionsvorsitzender. Er hatte nicht gemerkt, dass oben auf der Seite „Satire“ stand.
Im Mai 2011 berichten wir in „Chaostage beim USC“ über die dubiosen finanziellen Machenschaften rund um die Bundesliga-Basketballer. Das chilli trifft sich mit dem „freien Journalisten“ Werner Semmler. Der hatte in einem Blog erzählt, er habe exklusive Informationen, wonach gegen den USC eine Anzeige beim Staatsanwalt liegt. chilli deckt auf, dass Semmler die Anzeige selbst erstattet hat. Der Mann droht uns vor Erscheinen des Stückes mit Konsequenzen. Wir drucken. Ein Insider aus dem Vorstand erzählt später, dass das chilli das einzige Medium war, „das immerhin 98 Prozent der wahren Geschichte recherchiert“ hatte.
Im Dezember 2013 veröffentlichen wir die Geschichte „Wetterkrieg? Verschwörungstheoretiker glauben an Chemtrails“. Es hagelt empörte Leserbriefe. Wir machen eine Ausnahme und drucken eine Doppelseite.
Zum Zehnjährigen im April 2014 bringen wir erneut eine exklusive Geschichte über den geplanten Bau eines neuen Bordells in Freiburg. Der Betreiber und sein Kumpel versuchen mit Nachdruck in Telefonaten, die Geschichte zu verhindern. Wir drucken.
Im September 2017, nach monatelanger Vorarbeit, bringen wir eine Geschichte über drei Freiburger Hacker. Der Erpressungstrojaner Wan-naCry hatte Schlagzeilen gemacht. Die IT-Profis machen fürs chilli den Härtetest: Sie zeigen am Hauptbahnhof, wie leicht Smartphones zu knacken sind und attackieren eine Freiburger Firma. Die Ergebnisse sind erschreckend.
Im Januar 2018 hatte das Freiburger Polizeipräsidium die Presse über den Missbrauchsfall in Staufen informiert. „Pädophilenring zerschlagen“ war die Schlagzeile, die dann in regionalen, aber auch überregionalen Medien gleichlautend übernommen wurde. „Das ist eine Schwachsinnsmeldung“, antwortete Jens Wagner, Pressesprecher beim Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ auf chilli-Nachfrage. Denn längst nicht alle, die pädophil sind, vergreifen sich an Kindern. Im Präsidium verwies man uns hernach ans Landeskriminalamt, wo der Krug an die Staatsanwaltschaft Freiburg weitergereicht wurde. Dort hieß es dann kleinlaut, die Formulierung sollte „in der gebotenen Kürze“ den Sachverhalt erklären. Eine Verwendung „entsprechend streng medizinischer Kriterien war nicht beabsichtigt“. Nach unserer Recherche und einer Geschichte über zwei Pädophile änderte sich der Ton der Pressemitteilungen.
Im Juni 2018 bringen wir eine Geschichte über Polyamorie und zeigen, wie eine Frau mit zwei Männern zusammenlebt und auch ins Bett geht. Für viele unvorstellbar, unnatürlich oder gar pervers – für die drei ganz normal. Die Story zählt zu den meistgeklickten auf unserer Homepage. Wieder war es ein Tabu-Thema, über das wir aufgeklärt haben. Wie schon die Geschichte über den Freiburger Andreas Kuck im März 2012, der auf seiner Seite privatsamen.de seine Spermien kostenlos Paaren anbietet, die keine Kinder bekommen können.
Oder unsere Story „Game over“ über Anna M. im Juli 2015, die spielsüchtig war und in wenigen Wochen in einer Automatenhalle in Freiburg 30.000 Euro verzockt hatte. Oder die über Jonas im Mai 2017, der früher mal ein Mädchen war. Ein Dokument über Ausgrenzung, Psychostress und fehlende Anerkennung.
Im September 2019 titeln wir „Operation Organspende“ und befragen alle Bundestagsabgeordneten aus Südbaden. Es geht um die Widerspruchslösung. Damals stimmte der Bundestag dagegen ab. Nun flammt die Debatte neu auf.
Die 158. Ausgabe wird immer eine besondere bleiben. Ein Titelfoto in Schwarz-Weiß. Die menschenleere Kajo an einem ganz normalen Vormittag in Freiburg. Die Pandemie hat die Welt im Griff. Auch in Freiburg, wo Oberbürgermeister Martin Horn ab dem 21. März faktisch eine Ausgangssperre verhängt. Als erster Oberbürgermeister in Deutschland. Unser Aufmacher trägt den Titel „Vom Virus verweht“.
Im September 2020 bringen wir nach langem Vorlauf eine exklusive Story über Freiburger Mitglieder des arabischen Omeirat-Clans. Wir kriegen Leserpost. Einzelne wollen Kontakt zum Clan. Offenbar erhoffen sie sich „Hilfe in privaten Angelegenheiten“. Die Kontakte bleiben bei uns.
April 2021: „Sex im Hinterstübchen“ titelt das chilli. Weil die Bordelle wegen Corona dicht sind, flüchtet sich der käufliche Sex ins Private – und Bordellbetreiber in ihre Heimatländer.
Im Juni berichten wir exklusiv über den schwunghaften Drogenhandel im Knast. Wir treffen mehrere Ex-Häftlinge, einer will Geld für ein Gespräch. Die Recherche-Akten lagern kartonweise außerhalb der Redaktion. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Beamte.
März 2022: Der russische Diktator Putin ist in die Ukraine einmarschiert. Freiburg hilft auf allen Kanälen, nimmt 157 Kindern und Jugendliche aus einem Waisenhaus bei Kiew auf. Bei der Pressekonferenz sagt der Heimleiter: „Ihr habt unseren Kindern die Kindheit zurückgegeben.“ Auch gestandenen Journalisten steht das Wasser in den Augen. Wir bringen die Freiburger Hilfe als Aufmacher.
„Wer. Soll. Das. Bauen?“ lautet unsere Schlagzeile im August 2022. Die Titelstory befasst sich kritisch mit den politischen Ambitionen beim neuen Stadtteil Dietenbach. Ein Mitglied des städtischen Gutachterausschusses schreibt an die Redaktion: „Respekt Herr Bargmann, Sie sind glaube ich der Einzige, der das Dietenbach-Drama verstanden hat.“
Im Mai 2023 bringen wir – nach langem Vorlauf – ein Interview mit Jan Ehret. Der Exil-Freiburger veranstaltet bundesweit Kinky-Partys, auch mit Sex in Playrooms. Kurz nachdem wir die Geschichte online stellen, bringt auch der SPIEGEL eine Geschichte über Ehret und seine „sexpositiven Partys“.
Im Juli bringen wir eine Exklusiv-Story über Freiburgs Kritische Infrastruktur. Ein Mitglied des Chaos Computer Club erzählt, dass er in einem Krankenhaus mühelos lebenserhaltende Maschinen abschalten könnte. Ein Weckruf.
Auch wenn es nun schon fast 20 Jahre her ist: Unvergessen ist unsere Geschichte über einen verurteilten Mann aus der Drogenszene, der zehn Jahre lang mit wechselnden Papieren als Informant fürs Landeskriminalamt (LKA) gearbeitet hatte, dann „fallen gelassen“ wurde und Patronenhülsen in seinem Briefkasten vor seiner Wohnung im Freiburger Stadtteil Lehen findet. Ein Typ wie ein Bär, ein Typ, der Angst hat. Während der Recherche fuhren damals zwei schwarze S-Klasse-Limousinen mit Stuttgarter Kennzeichen am Redaktionssitz vor. Mit Männern, die Knöpfe im Ohr hatten. Und einem hochrangigen Vertreter des zuvor angeschriebenen LKA. Ob wir das wirklich drucken wollen? Wir drucken.
Fotos: © chilli