„Wir dürfen jetzt die Kohlen aus dem Feuer holen“: Uniklinik-Krankenpfleger im Interview Gesundheit | 17.04.2021 | Jakob Schautt

Zu Beginn der Pandemie wurde den „Corona-Held·innen“ applaudiert. Inzwischen ist die Situation der Pflegekräfte etwas aus dem Blick der Öffentlichkeit gerückt. Das stellt auch Jürgen Gissler (40) fest. Der Krankenpfleger an der Freiburger Uniklinik erzählt im Interview mit chilli-Autor Jakob Schautt von der Lage im größten Freiburger Krankenhaus und fordert einen Shutdown – auch für die Wirtschaft.

Krankenpfleger: Jürgen Gissler

chilli: Herr Gissler, wie sieht die aktuelle Corona-Lage in der Uniklinik aus?

Gissler: In Südbaden sind die Inzidenzen noch im Rahmen, insbesondere in Freiburg mit einer 7-Tage-Inzidenz unter 100. Die schiere Zahl an Covid-Patienten ist hier im Moment noch nicht das Problem, während anderswo in der Umgebung schon die Kapazitätsgrenzen erreicht sind. Trotzdem haben wir ein gewisses Limit erreicht. Das Problem ist dabei nicht die Zahl an verfügbaren Intensivbetten, sondern das Personal. Das eigentliche Nadelöhr ist die Verfügbarkeit von spezialisiertem Personal, das einen beatmeten, schwerstkranken Patienten versorgen kann. Zumal die Anzahl von schwerkranken Patienten mit anderen Erkrankungen ja nicht weniger wird.

chilli: Inwiefern unterscheiden sich Covid-Patient·innen von Patient·innen mit anderen Erkrankungen?

Gissler: Das Problem ist die sehr aufwendige Versorgung. Ein Covid-Patient mit einem schweren Verlauf liegt bis zu acht Wochen auf Intensivstation und weist einen sehr hohen Versorgungsaufwand auf. Die insgesamt größere Anzahl an Patienten mit diesem hohen Aufwand führt zu deutlich mehr Stress und höheren Anforderungen an das Pflegepersonal. Entweder muss dann spezialisiertes Personal viel mehr Arbeit machen oder unerfahrene Pflegekräfte werden mit Situation konfrontiert, in denen sie sich nicht sicher fühlen. Das beansprucht die Leute und macht sie mürbe.

chilli: Wie ist die Lage für die Pflegekräfte im Moment?

Gissler: Zu Beginn der Pandemie gab es viele Unklarheiten und Diskussionen, zum Beispiel bezüglich Schutzausrüstung. Da hat sich vieles eingespielt und es hat sich eine neue Normalität und Routine entwickelt. Es gibt aber nach wie vor die Probleme, auf die von Pflegekräften schon seit Jahren hingewiesen wird – insbesondere Arbeitsverdichtung und Fachkräftemangel. Zu wenige wollen diesen Beruf noch machen, auch auf Grund der Arbeitsbedingungen. Die wiederum haben mit dem Kostendruck und der Profitlogik im Gesundheitssystem zu tun. Im Zuge der Pandemie haben sich die Bedingungen nicht verbessert, sondern der Stress ist durch Corona noch größer geworden.

chilli: Welche Maßnahmen gab es von Seiten der Regierung zur Verbesserung der Lage der Pflegekräfte?

Gissler: Es wurde durch die Politik wenig getan, um die Lage wirklich zu verbessern. Die Corona-Prämie, die an manche Beschäftigte ausgezahlt wurde, hat nicht dazu beigetragen, die Stimmung zu verbessern. Sie hat eher die Belegschaften gespalten, weil nicht alle die Prämie bekommen haben. Die Beschäftigten in der Verwaltung oder der Technik hatten auch einen Riesenstress, zum Beispiel mit der Beschaffung von Material oder dem Umbau von Räumen, die bekommen aber alle nichts. Deshalb ist diese Prämie als Maßnahme und als Anerkennung ungeeignet. Statt dass ein wirkliches Signal kommt, werden Einmalzahlungen gemacht. Es braucht aber endlich eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

chilli: Wie könnte die Situation der Pflegekräfte verbessert werden?

Gissler: Das Kernproblem ist nach wie vor der Personalmangel, deshalb braucht es dringend eine gesetzliche Personalbemessung, die auch wirkt. Der Beruf muss insgesamt attraktiver werden. Dabei spielt sicher das Thema Bezahlung eine Rolle, aber auch die Wochenarbeitszeit ist für eine so belastende Tätigkeit im Schichtdienst zu hoch. Viele können aufgrund der Belastung nur in Teilzeit arbeiten. Außerdem braucht es von Seiten der Politik dringend die Anerkennung, dass der Pflegeberuf oft nicht bis zum Rentenalter ausgeübt werden kann. Viele Pflegekräfte bekommen im letzten Drittel des Arbeitslebens gesundheitliche Probleme. Hier braucht es Lösungen, auch weil jüngere Kolleginnen sonst oft frühzeitig den Absprung suchen.

chilli: Wie wird die aktuelle Corona-Lage von Pflegekräften wahrgenommen und welche Schritte sind zur Bekämpfung der Pandemie jetzt notwendig?

Gissler: Es gibt bei vielen Pflegekräften das Gefühl: Wir dürfen jetzt die Kohlen aus dem Feuer holen. Die aktuelle Situation ist so nicht tragbar. Die Freizeit und das Privatleben sind schon lange sehr stark eingeschränkt, trotzdem kommt die Bekämpfung der Pandemie nicht voran. Gleichzeitig werden der Wirtschaft keine strikten Maßnahmen verordnet. Es gibt Reglementierungen in der Freizeit, aber wenn es ins Berufliche geht, wird so getan, als sei das Virus auf einmal nicht mehr so gefährlich. Das muss sich schleunigst ändern. Wenn Pflegekräfte über Wochen und Monate an der Belastungsgrenze Covid-Patienten versorgen und dann gibt es wieder in irgendeiner Fleischfabrik einen Ansteckungsherd, dann ist das frustrierend. Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Politik es nicht schafft, Menschenleben über Wirtschaftsinteressen zu priorisieren.

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