„Alemannisches Quartett“: Mundart-Hörspiel von Martin Graff Kultur | 02.07.2021 | Erika Weisser

SWR Talkrunde Bei den Aufnahmen zum „Alemannischen Quartett“ im SWR-Studio Baden-Baden: (v.l.n.r.) Martin Graff, Francis Freyburger, Volkmar Staub und Luc Schillinger.

Am 4. Juli treffen sich Albert Schweitzer, René Schickele, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre im SWR zu einer unmöglichen Talkrunde.  Martin Graff hat das „Alemannische Quartett“ geschrieben und das Elsass-Hörspiel inszeniert.

„Wir schreiben den 26. November 1918“, sagt ein Sprecher feierlich. „Frankreich feiert den Sieg über Deutschland: L’Alsace est à nouveau français“, fügt er hinzu und beschreibt, wie Marechal Philippe Pétain, der Held des Ersten Weltkriegs, vor dem mit der blau-weiß-roten Trikolore bedeckten Altar des Straßburger Münsters kniet. Brausende Orgelmusik ertönt.

Was zunächst wie eine Live-Übertragung aus dem gotischen Gotteshaus klingt, erweist sich bald als kommentierende Rückschau – mit dem heutigen Wissen über den späteren Verlauf der Geschichte. Denn derselbe Marechal Pétain, sagt der Sprecher, wird 22 Jahre später, am 22. Juni 1940, in Anwesenheit Hitlers den Waffenstillstand mit Nazi-Deutschland unterzeichnen. Und er verweist darauf, dass dieser „Held“ bald auch „die französischen Juden mit Hilfe der französischen Polizei an Deutschland ausliefern und in den sicheren Tod schicken“ wird.

Der Sprecher ist Martin Graff, ehemaliger evangelischer Pfarrer, Journalist und Filmemacher sowie immer noch aktiver Buchautor, Regisseur und grenz- und sprachüberschreitender Kabarettist, Kolumnist und „Gedankenschmuggler“. Er hat das „Alemannische Quartett“ erfunden und schreibt jedes Jahr ein neues Hörspiel mit diesem Titel. Zu Themen, die mit dem Elsass und seiner inzwischen kaum noch vorhandenen Zweisprachigkeit zu tun haben.

Europa im Herzen

Geboren wurde er im Juni1944 in Munster, heute lebt er in Soultzeren im oberen Münstertal, in den Hochvogesen. Graff ist dreisprachig: Mit seiner Mutter hat er „immer nur elsässisch gesprochen“, französisch war die Schulsprache, und das Hochdeutsche eignete er sich während seiner Studienzeit an.

Für Graff, den überzeugten Europäer, der jeden nationalistischen „Patridiotismus“ tödlich findet, ist das Elsass eine typisch europäische Region. Aufgrund der geografischen Lage, der wechselhaften Geschichte und der besonderen sprachlichen und kulturellen Situation sei das kleine Land zwischen Vogesenkamm und Rhein geradezu prädestiniert für ein Zusammenleben in Freundschaft und Frieden: Hier könne die „europäische Utopie“ gelebt werden, in der „die Kopfgrenzen gesprengt, die mörderischen Identitäten verhindert und mit der Mentalität verschiedener Völker in einer gemeinsamen Sprache gedacht werden“ könne.

So versteht Graff die These vom „geistigen Elsässertum“ des Schriftstellers René Schickele. Als überzeugter Pazifist hatte er das Elsass schon während des Ersten Weltkriegs in Richtung Schweiz verlassen und zog danach nach Badenweiler. Er ging noch vor der Machtübernahme durch die Nazis ins südfranzösische Exil, wo er kurz vor der Ausreise in die USA starb. Im Hörspiel kommt Schickele mit der Stimme von Francis Freyburger zu Wort, der ein genauso wunderbares Elsässisch spricht wie Luc Schillinger, der dem Pfarrer, Arzt und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer seine Stimme leiht.

Fiktive Dispute

Die beiden, die tatsächlich Freunde waren, kommen ins Gespräch über die Zeitläufte, über philosophische Fragen, über die aufziehende Bedrohung durch die Nazis, über Heimweh und Heimat- sowie Sprachosigkeit. Mit von der Partie ist auch kurz Martin Heidegger, der Freiburger Philosoph, der sich später – für die beiden unverständlich – mit den neuen Machthabern arrangierte; sein Part wird von Volkmar Staub gesprochen. Der vierte im Bunde ist Jean-Paul-Sartre, glühender Verehrer von Heidegger und Großneffe Albert Schweitzers. Auch sie kommen miteinander in einen fiktiven Disput, der auf historischen und persönlichen Fakten beruht. Der von Arthur Gander interpretierte Sartre spricht allerdings kein elsässisch.

Das wird, bedauert Martin Graff sehr, sowieso fast nicht mehr gesprochen: 1945, nach der Befreiung des Elsass von der Annexion durch Hitlerdeutschland und der damit zusammenhängenden Zwangsrekrutierung von Elsässern für die Wehrmacht, war man sich ohne große Absprache einig, die Muttersprache zugunsten des Französischen aufzugeben. Es sollte „nie wieder für einen Elsässer die Gefahr bestehen, weil er Deutsch spricht, in eine deutsche Uniform gesteckt zu werden“.

Graff, dessen Vater als Zwangsrekrutierter der Wehrmacht starb, setzt sich dennoch für den Erhalt des Elsässischen ein: „Die Zweisprachigkeit eröffnet uns einen anderen Blick auf die Welt.“ Sein streckenweise auch sehr heiteres Hörspiel beweist es.

Info
„Das alemannische Quartett“
Elsässisches Mundart-Hörspiel
von Martin Graff
Sonntag, 4. Juli, 21 Uhr
SWR 4

Foto: © SWR