Ein aufschlussreicher Besuch im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen Kultur | 24.07.2021 | Erika Weisser

Blick auf eine Epoche: In dem Tagebuch eines jungen Mädchens ist der Zeitgeist der 1950-er und 1960-er Jahre anschaulich festgehalten und niedergeschrieben.

Ein paar Gehminuten vom Bahnhof Emmendingen entfernt, im Alten Rathaus am belebten Markplatz der hübschen Altstadt, hat „ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ Sitz und Geschäftsstelle. Das 1998 gegründete und seit 2019 mit dem hier zitierten Vermerk in das Denkmalbuch des Landes Baden-Württemberg eingetragene Deutsche Tagebucharchiv (DTA). Es versteht sich als Aufbewahrungsort für autobiografische Zeitzeugnisse des Alltags von jederfrau und jedermann; hier werden Tagebücher, Briefe und Reisebeschreibungen oder für die Familie niedergeschriebene Lebensrückblicke von Privatpersonen gesammelt und vor allem der Wissenschaft zugänglich gemacht.

Solche „Ego-Dokumente“, sagt Marlene Kayen, seien „eine wichtige Quelle für die Erforschung der Alltags-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte“: Tagebücher dienten den Schreibenden zwar zunächst als eine Art Kompass bei ihrer großen und unwägbaren Lebenswanderung. Doch dem autorisierten Zweitleser könnten diese Momentaufnahmen aus vergangenen Zeiten nachträglich Aufschluss geben über die Wirkung großer zeithistorischer oder weltpolitischer Ereignisse auf die kleine Lebenswelt und den Alltag der Menschen in der jeweiligen Epoche.

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Schätze: Manche Tagebücher sind von den Schreibenden…

Marlene Kayen wirkt seit neun Jahren im Deutschen Tagebucharchiv mit, lernte die verschiedenen Arbeitsbereiche wie etwa Indexieren und Transkribieren kennen – und nicht zuletzt die digitale Erfassung der Neuzugänge. Seit 2016 ist sie Vorsitzende des Trägervereins. Nach ihren Angaben gehören inzwischen mehr als 23.600 Selbstzeugnisse aus der Feder von knapp 5000 weitgehend unbekannten Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zum Bestand. Und jedes Jahr kommen rund 1000 weitere Dokumente dazu, „die den Bogen vom Privaten zur Zeitgeschichte spannen“ und deren Lektüre eine „emotionale und intellektuelle Bereicherung“ sei. Durch ihre Mitarbeit, sagt die ehemalige Englisch- und Französischlehrerin, habe sie „hier ein komplettes und nachhaltiges Studium Generale bekommen“.

…selbst illustriert…

Jedes Jahr gebe es etwa 250 Rechercheanfragen von Historikern, Journalisten oder Studierenden, die zu bestimmten und ganz unterschiedlichen Themen arbeiten wollen; im vergangenen Jahr habe es viel Interesse an Tagebuchaufzeichnungen über die vor 100 Jahren grassierende Spanische Grippe gegeben. Oft nachgefragt werden aber auch Fluchtgeschichten. Sie erfahre immer wieder von Veröffentlichungen, die auf der Grundlage der Forschungen des DTA zustande kamen. So „schaffen Laien Wissen für die Wissenschaft“, freut sie sich.

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…und liebevoll gestaltet.

Sie arbeitet ehrenamtlich mit den beiden Hauptamtlichen, dem Geschäftsstellenleiter Gerhard Seitz und der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Jutta Jäger-Schenk, zusammen und ist mit dem Gesamtvorstand für die Koordination der Arbeit der etwa 100 ehrenamtlich Mitarbeitenden zuständig. Durch deren engagierte und unbezahlte Arbeit, betont Marlene Kayen, werde „die sorgfältige Erschließung und fachgerechte Aufbewahrung der Dokumente überhaupt erst ermöglicht“.

Denn das einzige Tagebucharchiv Deutschlands erhält – außer der mietfreien Überlassung der Räume des Archivs und des angeschlossenen kleinen Tagebuchmuseums durch die Stadt Emmendingen – trotz seiner anerkannten Bedeutung für die Forschung wenig öffentliche Förderung. Es wird vorwiegend aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und anderen Zuwendungen finanziert, für deren Akquise die Vorsitzende ebenfalls verantwortlich ist.

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Damit auch „interessierte Laien“ von der vielfältigen Arbeit erfahren, gibt es jedes Jahr zwei Lesungen mit Auszügen aus den Dokumenten, die beispielsweise auch von Leuten stammen, die einst auswanderten. Diese „Zeitreisen“ haben immer einen bestimmten Themenschwerpunkt, der aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet wird. Für die interessierte Öffentlichkeit gibt es auch das kleine Museum, wo unter dem Motto „Lebenslust – Lebenslast – Lebenskunst“ in wechselnden Langzeitausstellungen ganz besondere Schätze präsentiert werden, mit Führung oder Audioguide: Lebensspuren in schönen Vitrinen.

Info
Deutsches Tagebucharchiv e.V.
Besuche nach Anmeldung
Tel.: 07641/574659
E-Mail: dta@tagebucharchiv.de
Webseite: www.tagebucharchiv.de

Fotos: © DTA