Bionik in der Botanik: Bionische Verschattung im Botanischen Garten Immobilien | 13.03.2023 | Reinhold Wagner

Druckluftgesteuerte Module Die Ersten von 200: Mit Druckluft werden die Module gesteuert.

Was haben eine Paradiesvogelblume, eine Venusfliegenfalle, ein Wasserrad und ein Betriebsgebäude im Botanischen Garten der Universität Freiburg gemeinsam? Thomas Speck, Biologie-Professor und Direktor des Botanischen Gartens in Freiburg, erforscht genau diese Zusammenhänge und vieles mehr zum Thema „Bionik“ seit mehr als 20 Jahren. Nun gehen Forschung und Entwicklung in den Praxistest über: An einer Wand am vollverglasten Betriebsgebäude im Botanischen Garten wird eine Fassadenverschattung realisiert, die weltweit Pioniercharakter hat.

Speck führt das Funktionsprinzip an einer gerade aufblühenden Paradiesvogelblume vor: Als er durch Herabdrücken der zu einer Sitzstange verbundenen zwei Blütenblätter einen bestäubenden Vogel imitiert, biegt diese sich nach unten und die Blüte öffnet sich, um Pollen und Nektar freizugeben. Lässt er los, klappen alle Teile wieder in den Ausgangszustand zurück. Die reversible Verformung verzichtet vollständig auf Gelenke, ist effizient und langlebig. Diese Eigenschaften wollen die Forscher der Plant Biomechanics Group Freiburg zusammen mit Ingenieuren und Architekten der Uni Stuttgart technisch umsetzen und für das Bauhandwerk nutzbar machen.

Die Klappmechanismen der Venusfliegenfalle und des Wasserrads funktionieren ähnlich. Elastisch verformbare Gebäudeteile sollen nun im Bauwesen für gelenk- und verschleißfreie und somit wartungsarme Beschattung sorgen. „Bionik“ nennt der Fachmann diese von der Natur inspirierte, aber die Vorbilder nicht 1:1 übernehmende, sondern in realisierbare Technik umsetzende Forschungsrichtung. Herausgekommen sind die Fassadenverschattungssysteme Flectofin und Flectofold.

»Platten, die wie Flügel arbeiten«

Während ein Gebäude mit auf dem Flectofin-Prinzip basierenden Modulen bereits auf der EXPO 2012 in Südkorea bewundert werden konnte, wird Flectofold erstmals in Freiburg getestet. Die Elemente sind aus unterschiedlich flexiblen Schichten von Fasern zusammengesetzte Leichtbauplatten, die durch sanften Druck und Entlastung wie zwei Flügel auseinander- und wieder zusammenklappen. Engmaschig nebeneinandergesetzt, sollen sie die Fassade des Gewächshauses im Sommer vollständig vor der Sonne abschirmen und sich bei Bewölkung oder im Winter öffnen, um Licht hereinzulassen.

Nach langer Planung war es am 8. Februar so weit: Die ersten Module wurden am Stahlunterbau angebracht. Nach der Montage weiterer rund 200 Elemente wurden diese mit Strom versorgt, um die durch Druckluft bewegte Mechanik zentral steuern zu können. Sobald die ersten heißen Tage den 14 im Gebäude Arbeitenden um Gärtnermeister Dirk Rohleder zu schaffen machen, wird sich zeigen, wie gut das System für ein angenehmes Klima sorgt.

Die Erwartungen in die neuartige Technik sind hoch. Dirk Rohleder: „Mit der Beschattung werden Sozialräume, Aufenthaltsraum, Küche, Umkleiden, Toiletten und das Büro im 1. OG, im EG ein Seminarraum und das Eckbüro beschattet. Hoffen wir, dass die Beschattung die Räume vor Überhitzung schützt. Im Sommer hatten wir hier an die 35 Grad Celsius. Da war nachmittags an Arbeiten nicht mehr zu denken.“

Finanziell gefördert wurde die Pionierarbeit der Freiburger und Stuttgarter Exzellent-Cluster livMatS und IntCDC durch das Land Baden-Württemberg. Für den ebenfalls im Botanischen Garten stehenden livMatS-Pavillon gab es bereits mehrere Preise und Auszeichnungen. Und bei der Technischen Fakultät hat am 10. März ein weiterer livMats-Pavillon und damit ein weiteres Beispiel innovativer bionischer Baukunst in Freiburg eröffnet.

Foto: © Reinhold Wagner