Vielschichtigen Familienroman: "In Zeiten des abnehmenden Lichts" Kinonews | 26.05.2017

Bringen Sie das Gemüse auf den Friedhof“, sagt Wilhelm Powileit an seinem 90. Geburtstag zu jedem, der ihm einen Strauß überreichen will. Und es sind viele ­Sträuße: Zu Dutzenden sind die Besucher an diesem Tag im Oktober des Jahres 1989 zum Gratulationsempfang in die noble Villa gekommen, in der der Veteran der Arbeiterklasse und seine Ehefrau Charlotte seit Jahren residieren.

Die halbe Nachbarschaft ist anwesend, dazu diverse Vertreter diverser SED-Leitungsebenen, hohe Kader aus verschiedenen Volkseigenen Betrieben, ranghohe Militärs, Entsandte von Stadt- und Bezirksverwaltung sowie eine Schulklasse in Pionieruniform, die unter der Leitung einer eifrigen Lehrerin ein kämpferisches Ständchen zum Besten gibt. Der ansonsten eher mürrische, verbitterte und misstrauische Jubilar gibt sich aufgeräumt und frisch; in Erwartung einer weiteren Auszeichnung für seine langjährigen Verdienste hat er sich zuvor sorgfältig rasiert und zurechtgemacht, hat für das Pressefoto mit dem ersehnten Orden der Völkerfreundschaft am Revers seines besten Anzugs gar eine Höhensonne genommen – von der Badewanne aus.

Die zur Schau gestellte gute Laune hält freilich nicht lange an: Powileits Familie lässt auf sich warten; der alte Haudegen bezichtigt Stiefsohn Kurt, dessen russische Frau Irina und deren Sohn Sascha der Unzuverlässigkeit, regt sich insbesondere über Sascha auf: Er soll nämlich den langen Tisch für das bestellte Kalte Büffet aufbauen, offenbar ist nur er dazu in der Lage. Als ein befreundetes Ehepaar auftaucht, dessen Kinder sich über die zu jener Zeit bereits ziemlich undichten Grenzen Ungarns in den Westen abgesetzt haben, lässt er seinen Ärger an ihnen aus und wirft sie kurzerhand aus dem Haus.

Was er nicht ahnt: Auch Stiefenkel Sascha hat die DDR verlassen. Deshalb erscheint dessen Frau Melitta auch allein mit dem gemeinsamen Sohn, kommt Kurt zu spät und Irina erst einmal gar nicht: Sie betrinkt sich zu Hause, aus Trauer über den Verlust des geliebten Sohnes – und weil ihr die ganze Gesellschaft so verlogen erscheint, dass sie sie nüchtern nicht ertragen zu können meint. Unterdessen baut Powileit mithilfe des Urenkels den antiquarischen „Nazibonzen-Tisch“ selbst auf und schlägt – zum Entsetzen seiner längst ungeliebten Frau ­– Nägel in die Platte, um ihm den nötigen Halt zu verleihen.

Zu halten gibt es indessen nichts mehr: Nicht nur der Tisch bricht irgendwann auseinander, sondern auch die ohnehin marode Familie. Und, wie man weiß, das ganze System. Eine ganz ausgezeichnete Gesellschaftsstudie, eine kongeniale Verfilmung der zentralen Episode von Eugen Ruges gleichnamigem Buch. Und eine Glanzrolle für Bruno Ganz.

Text: Erika Weisser / Fotos: © Hannes Hubach, X-Verleih

In Zeiten des abnehmenden Lichts
Deutschland 2017
Regie: Matti Geschonneck
Mit: Bruno Ganz, Sylvester Groth, Hildegard Schmal u.a.
Verleih: X-Verleih
Laufzeit: 100 Minuten
Start: 1. Juni 2017
Vorpremiere: Montag, 29. Mai 2017 um 20.45 Uhr im Kino Kandelhof mit Überraschungsgästen