Bauchlandung in der Bildung? – Der neue PISA-Schock und seine Folgen f79 – das Jugendmagazin | 05.03.2024 | Pascal Lienhard

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Es ist ein historischer Tiefpunkt: Beim Leistungsvergleich PISA haben deutsche Schüler*innen so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. Wie kam es so weit? Was muss sich ändern? Darüber hat f79-Volontär Pascal Lienhard mit einer Schülerin, zwei Lehrern und einer Bildungsgewerkschafterin gesprochen. Sie fordern ein Umdenken.

PISA ist nicht nur die Stadt mit schiefem Turm. Beim „Programme for International Student Assessment“ werden seit dem Jahr 2000 Kompetenzen von Schüler*innen bestimmt. 2022 waren 15-Jährige aus 81 Ländern dabei. Deutschland schnitt in allen Bereichen – Mathe, Naturwissenschaften und Lesen – schlechter ab als in der vorherigen Runde von 2018. In Mathe und beim Lesen ist es das bisher schlechteste Ergebnis.

Auch anderswo hat sich das Niveau verschlechtert, der deutsche Leistungsrückgang ist aber besonders groß: Rund ein Drittel hat in mindestens einem Fach nur sehr geringe Kompetenzen, etwa jede sechste Person hat in allen Bereichen deutliche Defizite. Der Anteil der besonders Leistungsstarken blieb nur in Naturwissenschaften mit etwa zehn Prozent stabil.

Alea Moog ist Schülerin am Friedrich-Gymnasium und Pressesprecherin des Freiburger Schülerrats. Sie berichtet, dass PISA unter Schüler*innen kein verbreitetes Gesprächsthema sei. Kritisch sieht die 17-Jährige die Berichterstattung zum Thema: „Was viele von uns stört, ist ein Narrativ, das uns als faule, ungebildete und ‚politikverdrossene‘ Generation darstellt und häufig durch die schlechten Ergebnisse verstärkt wird.“

Alea Moog

Fordert ein Umdenken darüber, was Lernen bedeutet: Alea Moog vom Schülerrat Freiburg

Für die Ergebnisse nennt Moog mehrere mögliche Gründe. Home-Schooling während der Pandemie habe für viele nicht gut funktioniert und eine bleibende Wissenslücke hinterlassen. Ebenso könnte der massive Anstieg psychischer Erkrankungen im Kontext der Pandemie einen Einfluss gehabt haben. „Unsere Generation sieht sich momentan mit so vielen Krisen konfrontiert, dass die Motivation für das Lernen darunter leidet“, sagt die Schülerin. Auch falle es vielen schwer, den Smartphone-Konsum zu regulieren: „Selbst die Tablets im Unterricht wirken für viele ablenkend.“

Zudem wird beim Schülerrat über das Schulsystem diskutiert. Das sehr kompetitive Umfeld und die nur mäßig objektive Notengebung seien keine gute Voraussetzung für eine gesunde Lernatmosphäre. Ferner nennt Moog die Herausforderung durch G8, den aktuellen Lehrkräftemangel und die Überforderung mit der Digitalisierung an Schulen. Einige hielten zudem die frühe Trennung auf drei Schulformen für fragwürdig. Die Abschaffung der Grundschulempfehlung dürfte das Problem eher verschlimmert haben. Zudem sei die akademische Laufbahn generell weniger attraktiv geworden. Der Arbeitsmarkt werde immer flexibler, für viele sei der Schulstoff nicht lebensnah genug. „Durch Probleme wie Diskriminierung, Mobbing und Vandalismus kann an vielen Schulen zudem keine gute Lernatmosphäre entstehen“, kritisiert Moog.

„Wir wünschen uns ein allgemeines Umdenken darüber, was Lernen bedeutet“, sagt sie. Die Schülerschaft wolle keine Vorbereitung auf die Ellbogengesellschaft, sondern einen Ort, an dem Wissen vermittelt werde und das Potential jedes Einzelnen ausgeschöpft werden könne. Das bedeute weniger Hierarchien und Ungleichheiten und weniger Wettkampf.

Ein prominenter Kritiker des Schulsystems ist Bob Blume. Der Bühler Lehrer moderiert unter anderem den SWR-Podcast „Die Schule brennt“. Zwar decke PISA nicht alles ab, was für eine Allgemeinbildung in der Schule wichtig sei. Dennoch seien die Ergebnisse alarmierend. „Es geht um Grundfähigkeiten, die auch schon in anderen Studien als unzureichend präsentiert wurden“, erklärt der 41-Jährige. Wenn junge Menschen nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, sei das ein riesiges Problem: zum einen für die Aus- und Weiterbildung sowie den Beruf, zum anderen für Selbstschutz vor Fake-News und Lügen.

Bob Blume

Bildung gegen Fake-News und Lügen: Bildungsinfluencer Bob Blume

Patrick Bronner unterrichtet Mathe und Physik am Friedrich-Gymnasium. 2016 erhielt er den Deutschen Lehrerpreis in der Kategorie „Innovativer Unterricht“. Überrascht hat den 45-Jährigen das PISA-Ergebnis nicht – erschreckend sei es schon. „Es hat gezeigt, dass fast ein Drittel der 15-Jährigen nach neun Schuljahren die Mindestanforderungen im Fach Mathematik nicht erfüllt“, sagt er. Die Studie frage nicht auswendig gelerntes Wissen oder Formeln ab, sondern alltagsrelevante und anwendungsbezogene Kompetenzen.

Bronner fordert eine neue Lernkultur und mehr kompetenzorientierten Unterricht: „Die Schüler*innen sollen im Rahmen von Projekten selbstständig im Team arbeiten und ganz bewusst KI als Werkzeug einsetzen.“ In einem solchen Lernszenario stehen für den Pädagogen die „vier Ks“ im Mittelpunkt: Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration und Kommunikation. „Wir müssen die Schülerinnen und Schüler fit für das 21. Jahrhundert machen“, findet er. In Klassen­arbeiten werde mit Papier und Stift ohne Hilfsmittel in völliger Stille gearbeitet. Mit dem wirklichen Leben habe das nichts zu tun.

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„Müssen die Schülerinnen und Schüler fit für das 21. Jahrhundert machen“: Lehrer Patrick Bronner

Wie ein Wandel aussehen kann, zeigte der Pädagoge mit einer Projektarbeit zum Energiebedarf von Weihnachtsbeleuchtung und der Forderung nach einem Verzicht aus Umweltschutzgründen. Schüler*innen sollten sich im Team selbstständig einarbeiten, Messungen machen, Argumente logisch begründen und ein Erklärvideo produzieren. „Die Aufgabe war bewusst offen gestellt, KI-Tools waren erlaubt“, berichtet Bronner. „Dabei werden Kompetenzen gefördert, die Lernende in Zukunft benötigen und die bei PISA abgefragt werden.“

Traurig stimmt den Lehrer, dass die PISA-Studie erneut die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialer Herkunft gezeigt habe. Im Sinne der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit fordert er, dass alle Schüler*innen für die digitale Teilhabe ab Klasse 8 vom Schulträger ein einheitliches Tablet und einen kostenfreien Zugang zu KI-Tools zum Lernen erhalten.

Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), bezeichnet die Ergebnisse der PISA-Studie als schulpolitische Bauchlandung. „Deutschland hat seit Jahrzehnten sowohl ein Leistungs- als auch ein Gerechtigkeitsproblem“, sagt die 54-Jährige. Auch die GEW kritisiert, dass Bildungserfolg abhängig vom sozialen Status der Eltern sei.

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Kritisiert Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem: Monika Stein, Landesvorsitzende der GEW

Deutschland und gerade Baden-Würt­temberg werde auf Jahrzehnte Einwanderungsland bleiben. „Bisher verschenken wir die Chancen, die Menschen, die zu uns kommen, zu qualifizieren“, sagt Stein. Kleinere Klassen besonders an Grundschulen, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache an allen Schularten und auf Dauer angelegte Förderprogramme für Kinder, Jugendliche und Eltern sollten ihrer Meinung nach selbstverständlich werden. Zudem schlägt die GEW vor, dass herkunftssprachlicher Unterricht einzig in staatlicher Verantwortung stattfindet. „Wir müssen uns auch fragen, ob der Bildungsföderalismus mit 16 verschiedenen Schulsystemen noch zeitgemäß ist“, findet Stein.

Die GEW schlägt bundesweit einen Masterplan gegen Bildungsarmut und soziale Ungerechtigkeit vor. Für Baden-Württemberg fordert sie einen Bildungsgipfel und eine Enquete-Kommission Bildung.

PISA: Ablauf und Ergebnisse

In Deutschland wurden rund 6000 Jugendliche an etwa 260 Schulen aller Schularten geprüft. Hauptsächlich waren in rund zwei Stunden Multiple-Choice-Fragen zu beantworten. Zudem gab es Fragen zu Lernbedingungen, Einstellungen und sozialer Herkunft.

Spitzenreiter in Mathe, Naturwissenschaften und beim Lesen war 2022 Singapur. Deutschland liegt nur noch in Naturwissenschaften klar über dem Durchschnitt. In Mathe und beim Lesen entsprechen die Leistungen etwa dem Durchschnitt.

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