Alle reden vom Pflegenotstand: Zwei Azubis erzählen, wie der Beruf wirklich ist Ausbildung & Arbeit | 18.10.2018 | Till Neumann

Stress, Hektik, schlechte Bezahlung. Die Pflege hat keinen guten Ruf. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verdeutlicht das: Drei Viertel der deutschen Pflegekräfte fühlen sich ausgezehrt.

Julia Müller und Paul Schmidt (Namen geändert) haben sich dennoch für eine Ausbildung zum Altenpfleger entschieden. In „Karriere & Campus“ erzählen sie, wie es ihnen dabei ergeht.

Eine Ausbildung in der Gastronomie hat Julia Müller abgebrochen. Zu stressig war ihr der Beruf, wenig erfüllend die Aufgaben. Übergangsweise jobbte sie in einem Altenheim, betreute dort Senioren beim Essen. „Das war voll witzig“, erinnert sich die junge Frau aus dem Freiburger Umland. Die Arbeit gefiel ihr so gut, dass sie sich für einen Ausbildungsplatz bewarb. „Über die Schattenseiten des Berufs habe ich damals überhaupt nicht nachgedacht“, sagt Müller heute.

Mittlerweile ist sie wütend. Personal fehle überall, auch in ihrem Altersheim. Die Pläne der Bundesregierung findet sie lächerlich: 8000 neue Kräfte für die Altenpflege sind im Koalitionsvertrag vereinbart. Gesundheitsminister Jens Spahn plant sogar mehr: 13.000 neue Helfer sollen kommen. „Das kann man sich in den A**** schieben“, schimpft Müller. Mit einem oder zwei Kollegen mehr pro Heim ändere sich nichts.

„Pflege am Fließband“ nennt sie das tägliche Ackern unter Zeitdruck. Gewissensbisse plagen sie gegenüber den Bewohnern. Denn viele bekommen keinen oder selten Besuch, suchen daher den Kontakt mit den Pflegern. Doch dafür sei selten Zeit: „Schnell schnell muss es gehen“, erzählt Müller. Oft reicht es nicht mal für ein Schwätzchen oder einen kurzen Spaziergang.

Gerade bei den Dementen stellt sie empfindliche Reaktionen fest: „Wenn es hektisch wird, merken sie das und werden nervös.“ Morgens wasche sie in der Regel fünf oder sechs Bewohner. Schafft sie weniger, sind die Kollegen sauer. Überhaupt sei das Arbeitsklima durchwachsen. „Die älteren Kollegen sind jeden Tag gefrusteter“, berichtet sie. Wer 20, 30 Jahre dabei ist, sehe den Vergleich zu früher. Da wurden Schichten mit zehn oder zwölf Leuten besetzt, heute seien es nur sechs.

Die Belastung ist hoch: Vollzeitkräfte arbeiten zwölf Tage durch, haben dann zwei Tage frei, berichtet Müller. Zumal man immer wieder mit Schmerz und Tod konfrontiert werde. „Die Stimmung im Team ist eine Katastrophe“, sagt sie. Viele ältere Kollegen seien überlastet und ausgebrannt. Dass es da auch mal zwischenmenschlich kracht, versteht sie. Besser mache es die Lage nicht.

Trotz der Widrigkeiten macht die angehende Altenpflegerin den Job gerne: „Es ist einfach ein schöner Umgang, die Leute sind dankbar.“ Ihre Ausbildung möchte sie abschließen und sich dann mit einem Studium weiterbilden. Viel Hoffnung hat sie für den Pflegeberuf nicht: „Ich wüsste nicht, wie es besser werden könnte.“

Auch Paul Schmidt ist verärgert über die Politik. Der junge Mann Anfang 20 lernt ebenfalls in einem Altenheim bei Freiburg und wünscht sich mehr Anerkennung. „Wir Pfleger haben den Stempel drauf: der Job heißt A**** abputzen“, ärgert er sich. Dabei werde das der Arbeit einer examinierten Pflegekraft absolut nicht gerecht. Viel mehr stecke dahinter. Man behandle Wunden, organisiere Abläufe, kommuniziere in viele Richtungen.

Zur Ausbildung ist er über ein Freiwilliges Soziales Jahr gekommen. Das machte er in einem Heim für Demente. Als er nach einigen Monaten bei einem Toilettengang aushalf, musste er sich überwinden. „Am Anfang spürte ich Scham und Ekel“, erzählt er. Doch mit der Zeit gewöhnte er sich an diese intimen Momente und merkte, dass er jeden Tag mit viel Freude zu Arbeit ging.

Bewohner leiden, ihre Oma profitiert

Für Schmidt ist die Pflege „ein Beruf mit Zukunft“. Schließlich altert die Gesellschaft, Pflegekräfte sind gefragt. Die Probleme, die man aus den Medien kennt, kann er bestätigen. „Es gibt zu wenig Pflegekräfte, das ist kein Geheimnis“, sagt Schmidt. Der Stress sei groß, oftmals gehe wegen Gewinnorientierung die Qualität verloren. „Die Bewohner leiden darunter.“ Sein Arbeitgeber bezahle aber überdurchschnittlich gut, finde daher auch ausreichend Bewerber für freie Stellen.

Spaß macht es dem jungen Mann in jedem Fall. Genau wie Julia Müller erfährt er viel Dankbarkeit von den Menschen, die er betreut. „Das ist ein Beruf mit Sinn“, sagt der angehende Pfleger. Er genießt die Abwechslung, jeder Tag sei anders. Den Lebensweg der ihm Anvertrauten möchte er so schön gestalten wie möglich. „Ich hab’ mehr drauf als reine Pflege“, sagt Schmidt. Nach der Ausbildung will er drei, vier Jahre Berufserfahrung sammeln und sich dann weiterbilden.

Der Stress im Team bleibt auch bei den Heimbewohnern nicht unbemerkt, berichtet Müller. In ihrem Heim werde den Senioren dennoch viel geboten. Zu sehen, wie sie in den schönen Momenten aufblühen, zählt zu den Highlights ihrer Ausbildung. Ganz nebenbei hat sie dadurch ihre Sinne geschärft für die Kostbarkeit des Lebens. Mit ihrer Großmutter verbringt sie heute drei Mal so viel Zeit wie früher. 

Pflege in Deutschland

Drei von vier Pflegekräften in Deutschland fühlen sich gehetzt. Das hat eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Gewerkschaft Verdi ergeben. In der Krankenpflege ist demnach der Stress am größten: 80 Prozent der Befragten geben an, unter Zeitdruck zu leiden. Bei den Altenpflegern sind es 69 Prozent.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, 13.000 neue Pflegekräfte einzustellen. Zu wenig seien das, kritisieren Verbände und Experten. Sie fordern neben mehr Personal auch bessere Bezahlung. Laut Bundesregierung fehlten 2017 in der Alten- und Krankenpflege 36.000 Fach- und Hilfskräfte.

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