»Weit entfernt von leerem Gerede«: bib-Interview mit IHK-Präsidenten Steffen Auer SPECIALS | 30.07.2017

Anlässlich der jüngsten Mitgliederumfrage zur Konjunktur im Bezirk der Industrie- und Handelskammer Freiburg/Südlicher Oberrhein sprach Kammerpräsident Steffen Auer von der „besten Wirtschaftslage seit der Wiedervereinigung“. Alles eitel Sonnenschein also? Was mit Brexit, Bürokratie, Fachkräftemangel oder der Erhöhung der Gewerbesteuer ist, wollte bib-Autor Stefan Pawellek von Auer wissen.

Steffen Auer: „Auch die kommenden Jahre werden mit Digitalisierung und Elektromobilität große Umwälzungen bereithalten.“

bib: Herr Auer, wie schätzen Sie die gegenwärtige wirtschaftliche Lage ein? Hält die Konjunktur? Wird man eines Tages sagen, dass ausgerechnet in Zeiten großer politischer Unsicherheit Deutschland eine ökonomische Blüte erlebte?

Auer: Wir befinden uns in einer äußerst guten wirtschaftlichen Verfassung. Besonders ist an der derzeitigen Situation, dass der Aufschwung nun schon seit mehr als sieben Jahren anhält und wir in dieser Zeit im Kammerbezirk mehr als 60.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen haben. Einen direkten Zusammenhang zu den politischen Unwägbarkeiten im Ausland gibt es dabei nicht. Entscheidend ist für uns allerdings, dass unsere Handelspartner auch weiterhin auf freien Waren- und Personenverkehr setzen können, der in den vergangenen Jahrzehnten großen Wohlstand in Europa geschaffen hat.

bib: Wie ist die Lage in Südbaden? Sind die Unternehmen aufgrund ihrer Struktur – sehr viele kleine und mittlere Unternehmen – besser in der Lage, schneller auf neue Entwicklungen zu reagieren und sind sie aufgrund der Nähe zu Schweiz und Frankreich weltoffener, bereiter, global aufzutreten?

Auer: Sicher schafft die Nähe zu Frankreich und der Schweiz aufgrund der langen Tradition des grenzüberschreitenden Wirtschaftens ein gewisses Verständnis für interkulturelle Besonderheiten, das den Unternehmen auch bei Geschäftskontakten und der Einarbeitung ausländischer Arbeitnehmer zugutekommt. Der Vorteil einer diversifizierten, kleinteiligen Wirtschaftsstruktur liegt in erster Linie darin, dass man für Krisen einzelner Branchen weniger anfällig wird. Auch die kommenden Jahre werden mit der Digitalisierung und dem Umstieg auf die Elektromobilität große Umwälzungen für die Wirtschaft bereithalten. Da kann es von Vorteil sein, breit aufgestellt zu sein.

bib: Gibt es Branchen, die trotz der derzeitigen Hochkonjunktur als Verlierer dastehen?
Auer: Nein. Aber die Einflussfaktoren sind unterschiedlich. So hängt die Industrie von Aufträgen aus dem Ausland und dem Wechselkurs ab. Die Bauwirtschaft profitiert vom niedrigen Zinsniveau, während Dienstleistungsbranchen wie Handel oder Hotellerie davon profitieren, dass die Beschäftigtenzahl und die Reallöhne steigen. Letztlich aber gibt es viele Interaktionen zwischen den Unternehmen der verschiedenen Branchen, sodass eine gute konjunkturelle Gesamtlage auch immer für Impulse in den einzelnen Branchen sorgt.

bib: Gibt es für die südbadische Wirtschaft aufgrund des Brexit Probleme? Oder sehen Sie als Kammer Friktionen erst dann kommen, wenn die Austrittsverhandlungen abgeschlossen sein werden?

Auer: Dass einer unserer fünf großen Handelspartner aus dem Binnenmarkt ausscheiden möchte, ist bedauernswert. Auch zahlreiche Unternehmen unserer Region sind in Großbritannien aktiv. Die Zeit bis zum tatsächlichen Austritt können sie aber nutzen, um sich neu zu strukturieren, etwa Zulieferer in anderen Ländern zu suchen oder sich stärker auf andere Absatzmärkte auszurichten. Letztlich wissen wir aber noch nicht, ob und welche Handelsbeschränkungen es geben wird. Und selbst bei Einführung von Zöllen bliebe der Handel mit dem Land ja weiterhin möglich.

bib: Welche anderen wichtigen Entwicklungen treiben Firmen und Kammer derzeit um?

Auer: Das alles überragende Thema ist der Fachkräftemangel. Mittlerweile geben in unserer Konjunkturumfrage 60 Prozent aller Unternehmen an, dass dieser für sie zum geschäftlichen Risiko werde. Vor drei Jahren waren es nur 34 Prozent. In den Landkreisen um Freiburg herrscht mittlerweile Vollbeschäftigung mit einer Arbeitslosenquote von drei Prozent oder darunter. Und der demografische Wandel ist noch nicht abgeschlossen. In den kommenden Jahren werden weiter stark besetzte Jahrgänge aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden. Die Folge ist, dass die Betriebe ihre Geschäftsaktivitäten trotz vorhandener Nachfrage am Standort Oberrhein nicht mehr ausweiten können und Investitionen möglicherweise in andere Regionen fließen werden. Das müssen wir verhindern. Deshalb sind wir in vielen Bereichen aktiv, um gegen den Fachkräftemangel anzugehen: Sei es dadurch, dass wir an Gymnasien für die duale Ausbildung werben, Studienabbrecher informieren, grenzüberschreitend kooperieren oder bei der Flüchtlingsintegration helfen.

bib: Welche Rahmenbedingungen, Vorschriften, Gesetze sind
Ihnen ein Dorn im Auge?

Auer: Branchenübergreifend sind das wohl die bürokratischen Hürden. Zwar gibt es seit zweieinhalb Jahren die „One in, one out“-Regel, die verlangt, dass Belastungen für die mittelständische Wirtschaft nur eingeführt werden dürfen, wenn andere abgebaut werden. Tatsächlich aber erleben wir stattdessen immer noch viel zu häufig Bürokratieaufbau statt -abbau, zum Beispiel durch das Mindestlohngesetz, die Elektroschrottentsorgung, das Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit oder die überbordenden Dokumentationspflichten in der Anlageberatung. Bürokratieabbau würde nicht nur die Handlungsspielräume von Unternehmen erweitern, er würde auch Kosten reduzieren.

bib: In Ihrem Kammerbezirk ist es ruhig, was Kammerverweigerer angeht: Hat diese Bewegung ihren Zenit überschritten? Oder was ist das Geheimnis der Kammer Freiburg, dass hier Ruhe und Zufriedenheit herrscht?

Auer: Sie sprechen auf die Kammerkritik der Mitglieder der Industrie- und Handelskammern in Stuttgart und Hamburg an. Da gibt es spezifische Probleme vor Ort. Aber sicher erleichtert uns die Wirtschaftsstruktur hier am südlichen Oberrhein die Arbeit: Es gibt kein Unternehmen, das alle anderen überragt. Die Wirtschaftskraft hier liegt im familiengeführten Mittelstand. Ihn und die kleinen Betriebe haben wir mit unserer Arbeit im Fokus. Wir kennen die Sorgen unserer Mitglieder und versuchen, sie hier zu unterstützen.

bib: Im Vorfeld der Gewerbesteuererhöhung in Freiburg haben einige Betreibe gedroht, sie würden in letzter Konsequenz Freiburg verlassen: Welche Firma hat denn die Flucht angetreten oder wer plant sie? Oder war das alles nur Geschwätz?

Auer: Geschwätz war das auf keinen Fall. Wir wissen von Unternehmen, die einen Umzug in Erwägung ziehen, werden aber nicht darüber sprechen, solange dieser nicht vollzogen ist. Fest steht, dass die gemeinsame Aktion von uns mit der Handwerkskammer Freiburg, dem Dehoga Freiburg-Stadt, der Südwestmetall Bezirksgruppe Freiburg, dem Wirtschaftsverband Industrieller Unternehmen sowie dem Handelsverband Südbaden Erfolg hatte: Die Erhöhung fiel niedriger aus als zunächst geplant. Hier sind wir also weit entfernt von leerem Gerede.

bib: Herr Auer, vielen Dank für das Gespräch.

Foto: © Bode