Nachgewürzt: An die Dumpfbacken 4Literatur & Kolumnen | 19.05.2024 | Volkmar Staub

Volkmar Staub Volkmar Staub, geboren in Lörrach, lebendig in Berlin, vergibt im chilli die Rote Schote am goldenen Band.

Es gilt Jubiläen zu feiern: 75 Jahre Grundgesetz und 300 Jahre Immanuel Kant. Das geht beides wunderbar zusammen. Ich erhebe auf das Grundgesetz feierlich ein Gläschen, gefüllt mit einem kategorischen Aperitif! „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Das klingt etwas verquast und ist für die Dumpfbacken, die zurzeit Abgeordnete angreifen und zusammenschlagen, zu hoch. Im Volksmund wurde der Kantsche Imperativ zu „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Wenigstens das könnte man doch begreifen. Aber diese Trottel verstehen lieber einen zentralen Satz des Grundgesetzes absichtlich falsch: „Alle Gewalt geht vom Volke aus.“

Vielleicht liegt es auch daran, dass unser oberstes Gesetz mit einem Konjunktiv beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Unantastbar? Man soll es nicht begreifen? Also nicht anfassen? Es ist ja keine Anfassung, ihr Blödis, sondern eine Verfassung. Leider kann man all die Kalifatsanhänger, Reichsbürger und andere Fakenews-Produzenten mit dem Grundgesetz (GG) noch weniger bekämpfen als mit dem gelben Reclamheftchen Tigermücken jagen.

Ansonsten ist die Grundgesetzprosa ein sehr poetischer Text. „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ – klingt gut und ist voller Gourmet-Lyrik, aber mit dem Genuss ist das so eine Sache. Das GG soll auch die „Religionsfreiheit“ gewähren. Aber in unserem Land tummeln sich dogmatische Gläubige aller Couleur, Christen, Muslime, Juden, bis hin zu animistischen Voodoo-Priestern und skurrilen Exoten. Ich würde – schon wieder ein Konjunktiv – ­Religionsfreiheit lieber als Freiheit von jeder Religion verstehen wollen.

Das Grundgesetz wirft mehr Fragen auf als es Antworten gibt. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ja, vor dem Gesetz, aber hinterher? „Eigentum verpflichtet.“ Aber wozu? „Mann und Frau sind gleich berechtigt.“ Wann ist dieses gleich? In seiner poetischen Brillanz unübertroffen ist eindeutig der Antidiskriminierungsartikel: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Ansichten benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Bravo! Welch ein Höhepunkt politischer Gebrauchslyrik!

Eine scharfe Chili für alle Grundgesetzverächter!

Herzlich
Volkmar Staub, geboren in Lörrach, lebendig in Berlin, vergibt im chilli die Rote Schote am goldenen Band.

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