Chronik eines Amoklaufs: Jürgen Glocker schreibt das tragikomische Psychogramm eines Hochstaplers und Selbstverlierers Kultur | 02.03.2022 | Erika Weisser

Jürgen Glocker Porträt

In Freiburg spielt der Kleinstadtroman „Schopfloch“ aus der Feder des Waldshuter Autors Jürgen Glocker nur peripher. Und doch spielt die Universitätsstadt am Fuße des Schwarzwalds darin eine nicht ganz unwesentliche Rolle. Denn das reale Freiburg übt, wie alle Großstädte in ländlicher Umgebung, mit ihren kulturellen, politischen und sozialen Angeboten und der Möglichkeit gehobener Bildungswege einen großen Sog auf die Hauptfiguren Konstantin Klingele und Maximilian Mohr aus dem fiktiven Schopfloch aus.

Um der geistigen Enge der Hochschwarzwälder Provinz zu entfliehen, unternimmt der schon seit Kindertagen äußerst ruhelose Oberstufenschüler Klingele in den 1970er-Jahren regelmäßig inspirierende Ausflüge nach Freiburg, dem angeblichen Sündenbabel der Aufmüpfigen und Chaoten. Aufgrund seines Talents zur geschliffenen Rede wird er bald zum Insider. Der brave Ich-Erzähler Mohr, einst Klingeles Schulfreund und später Chronist der „Irrungen und Wirrungen des intellektuellen Hochstaplers“, absolviert hier sogar sein ganzes Lehramtsstudium. Allerdings als Pendler – und bleibt somit fast unbeteiligter Beobachter der Szene.

Konstantin Klingele, so ist Maximilian Mohrs rückblickenden Aufzeichnungen im Jahr 2019 zu entnehmen, verschlägt es zum Studium der Literaturwissenschaft nach Göttingen. Und laut Mohr und seiner Informanten, die er Drachen nennt, hätte er dort eine glänzende Karriere hinlegen können. Denn Klingele, der unter Einfluss von reichlich Schwarzwälder Kirschwasser im Trubel des „Fasnetsmändig“ am 29. Februar 1960 gezeugte Sohn des Besitzerpaars eines gutgehenden Hotels im aufstrebenden Touristenort Schopfloch, sei „sehr gescheit“ gewesen. Schon in der Schule sei ihm alles zugeflogen. Und das Studium habe er mühelos mit Promotion abgeschlossen. Und mit Bestnote.

Doch dann, schreibt Mohr, der nach seinem Studium Studienrat im Schopflocher Gymnasium wurde und nun Pensionär ist, sei es zum Stillstand gekommen. Auf dem Weg zur Habilitation, vermutet er, muss Klingele an seiner überheblichen Selbstüberschätzung gescheitert sein. Schon als Kind habe er seiner besonderen Gewitztheit und schnellen Auffassungsgabe wegen auf die anderen herabgeschaut, habe für eigene Unzulänglichkeiten die Schuld bei anderen gesucht. Unfähig, Fehler oder Schwächen einzugestehen und auf anderen Bahnen als um sich selbst zu kreisen, war er schon früh zum einsamen Außenseiter und Aufschneider geworden.

Dass er dies trotz gelegentlicher Erfolge, auch bei Frauen, sein Leben lang blieb, zeigt sich, als er nach unvollendeter Uni-Laufbahn nach Schopfloch zurückkehrt, um als bereits verkrachte Existenz die Leitung des Fremdenverkehrsamts zu übernehmen. Hier degradiert er sich zusehends selbst, betrachtet alle als Feinde und „ertrinkt hoffnungslos im Kirschwasser“. Dass er sich schließlich in einem rasenden Amoklauf an seinen bisherigen Kollegen rächt, überrascht nicht mehr. Ein treffsicher pointiertes Psychogramm des Selbstverlierers einer Geschichte, die überall geschehen kann.

Buchcover: Schopfloch

Schopfloch
von Jürgen Glocker
Verlag: Morio, 2021
440 Seiten, gebunden
Preis: 26 Euro

 

 

 

Foto: © privat