Gelebtes Europa: REGIOschönheit Kehl im Porträt Kultur | 11.10.2019 | Stella Schewe

Trambrücke Kehl

Wer an Kehl denkt, denkt meist sofort an Straßburg. Denn vom Rhein mal abgesehen, sind die beiden Städte miteinander verbunden, gehen quasi ineinander über. Was nicht heißen soll, dass das Städtchen rechts des Rheins im Schatten seines großen Nachbarn stehen muss. Wer es ein bisschen beschaulicher, ruhiger und grüner mag, ist in Kehl genau richtig.

„Eine Stadt, die am Wasser liegt, hat einfach was“, sagt Klaus Gras sichtlich begeistert und zeigt auf den größten von Kehls Flüssen, den hier 220 Meter breiten Rhein. Sein träge dahinfließendes Wasser glitzert in der Nachmittagssonne, am grünen Ufer liegt ein Kreuzfahrtschiff vor Anker. Doch Kehl liegt nicht nur an „einem Wasser“, neben dem Rhein fließen noch Kinzig und Schutter durch die rund 37.000 Einwohner zählende Gemeinde, es handelt sich also um eine „Drei-Flüsse-Stadt“, wie der Stadtführer betont.

Das Besondere aber ist zweifelsohne die Lage am Rhein. Hier findet sich auch das Wahrzeichen Kehls: die 2004 für die damalige Landesgartenschau errichtete Fußgängerbrücke „Passerelle des Deux Rives“, über die man mal eben schnell nach Straßburg hinüberspazieren kann. Berühmt wurde sie während des NATO-Gipfels im April 2009. Damals versammelten sich dort die Staats- und Regierungschefs – darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, US-Präsident Barack Obama, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und viele andere –, ein historischer Moment, zu dem die Kehler Stadtkapelle das Badnerlied schmetterte.

Das kleine Städtchen hat eine bewegte Geschichte, und das keineswegs erst seit Anfang des 21. Jahrhunderts. Sechs Mal sei Kehl zerstört worden, berichtet Gras, immer wieder sei es durch seine Grenzlage Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen geworden. „Die Kehler brauchen einen langen Atem.“ So sei die 1388 erbaute Strasburger Rheinbruck 400 Jahre lang bis weit in den Norden die einzige feste Verbindung über den Rhein gewesen. Gras muss es ja wissen – der 65-Jährige studierte Betriebswirt hat sich im Laufe der Jahre zu einem wandelnden Kehl-Lexikon weitergebildet, seine Tour heißt „Brückengeschichten“.

Noch eine Zahl mit vier hat er parat: Vier der insgesamt 38 Brücken am Oberrhein, zwischen Basel und Mainz, verbinden Kehl und Straßburg. Neben der Passerelle sind das die 1960 erbaute Europabrücke – für die aus Altersgründen weiter nördlich bereits ein Ersatz geplant ist –, die 2010 in Betrieb genommene zweigleisige Eisenbahnbrücke und schließlich die vor zwei Jahren eingeweihte Trambrücke. Seit 2017 verbindet nämlich die Straßenbahnlinie D die beiden Nachbarstädte. Solange die Welt in Frieden lebe, seien die Brücken ein Segen, so Gras. Aber wenn es Konflikte gebe – wie in den vergangenen Jahren die Terroranschläge in Paris, Nizza und Straßburg –, dann würden die Kehler in Mitleidenschaft gezogen, die Wartezeiten an der sonst offenen Grenze seien dann lang.

Garten der Zwei Ufer

Doch spaziert man am Rhein entlang, liegen die Vorteile auf der Hand: Für die Landesgartenschau, die Kehl und Straßburg vor 15 Jahren gemeinsam ausrichteten, wurde an den beiden Ufern ein riesiger grenzüberschreitender Park mit ausgedehnten Spazierwegen angelegt, der „Garten der Zwei Ufer“. Im südlichen Teil, entlang des übriggebliebenen Stückchens Altrhein, locken auch heute noch Skateranlage, Piratenschiff, Baumhäuser und Balanciergarten Kinder und Jugendliche in den Park. Mittendrin der 38 Meter hohe Weißtannenturm. Das Erklimmen der 210 Stufen lohnt: Bei klarem Wetter ist die Sicht auf Schwarzwald und Vogesen einfach traumhaft!

Begegnung mit Passerelle

Weiter nördlich liegt der Hafen, in dessen 20 Betrieben mehr als 4000 Menschen arbeiten. Insgesamt hat die kleine Stadt mit ihren zehn Ortsteilen sogar 17.289 Arbeitsplätze zu bieten. „Wir haben die volle Bandbreite“, sagt die Geschäftsführerin des Kehler Stadtmarketings, Fiona Härtel, „darunter Firmen, die auf der ganzen Welt operieren“. Etwa die Badischen Stahlwerke, die Firma Bürstner mit ihren Reisemobilen oder ADA in Kehl-Bodersweier, die Kosmetikprodukte für große Hotels in aller Welt herstellt. Auch der bekannte Smart-Tower, in dem europaweit die neuen Smart-Modelle präsentiert werden, wird in Kehl gefertigt, von Nussbaum Technologies im Ortsteil Sundheim. Größter Arbeitgeber der Stadt ist das Epilepsiezentrum Kork, wo man sich seit mehr als 125 Jahren der Betreuung von Menschen mit Epilepsien widmet.

Die zehn Ortsteile liegen allesamt im Hanauerland, einem ehemaligen Herrschaftsgebiet, das sich beiderseits des Rheins rund um Kehl und Straßburg erstreckt. Nach dieser Region ist der HanauerLandMarkt benannt, der in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindet, am ersten Oktoberwochenende. „Die Idee war, einerseits regionale, selbst erzeugte Produkte zu stärken“, erzählt Härtel – selbst gebackenes Brot, seltene Schnapssorten, Selbstgenähtes und vieles mehr –, „und andererseits kulturelle Beiträge anzubieten. Und zwar sowohl traditionelle, wie etwa einen Trachtenumzug, als auch moderne wie einen Rap-Auftritt von zwei jungen Kehlern.“ Die Kehler Geschäfte ziehen mit und haben an diesem Wochenende auch am Sonntag geöffnet.

Internationales Flair

45 Prozent der Kunden in Kehl kommen aus Frankreich, weiß die Marketingchefin, und auch umgekehrt ziehe es viele deutsche Einwohner zum Einkaufen nach Frankreich. „Die Kehler hatten schon immer zwei Portemonnaies, eines für die D-Mark und eines für Französische Francs. Doch seit die Tram zwischen den beiden Städten fährt, hat Kehl an internationalem Flair noch dazugewonnen.“ Was sich auch in den Übernachtungszahlen widerspiegelt: Diese sind von 228.000 im Jahr 2017 auf 248.000 im vergangenen Jahr gestiegen; ein Trend, der bereits mit der Landesgartenschau 2004 seinen Anfang nahm. „Damals haben die Kehler endlich mal gemerkt, was sie leisten können“, sagt Stadtführer Gras anerkennend.

Das internationale Flair hat allerdings auch seine Schattenseiten. So gibt es in Kehl viele Tabakläden, Shisha-Bars oder Wettbüros, was die Einheimischen nicht gerade attraktiv fänden, wie Härtel erzählt. Doch das Positive überwiege. „Wir haben viele Neubürger, darunter oft deutsch-französische Ehen oder Partnerschaften. Sie haben hier die Chance, die Nähe zu beiden Ländern zu leben“, so Härtel. „Die Tram hat Kehl ganz viel gebracht“, findet auch Antje Lenz, bei Kehl Marketing für Tourismus und Veranstaltungen zuständig. Die prognostizierten Fahrgastzahlen seien deutlich übertroffen, der Austausch noch viel intensiver geworden „Viele Straßburger bevorzugen zum Wohnen das ländlichere Kehl. Die beiden Städte sind zusammengewachsen“, so ihre Bilanz.

Lenz selbst arbeitet in Kehl, wohnt aber mit ihrer Familie in Straßburg, wo ihre kleine Tochter eine bilinguale Kita besuchte, inzwischen geht sie in die bilinguale Klasse der Kehler Falkenhausenschule. „Ich wollte, dass meine Tochter mit beiden Kulturen aufwächst. Kehl finde ich total spannend, weil beide Kulturen hier aufeinandertreffen. Für mich ist das gelebtes Europa.“

Fotos: © Pressestelle Stadt Kehl