Literatur-Tipp: Grenzfälle. Basel 1933–1945 Kultur | 21.05.2021 | Erika Weisser

schwarz-weiß Bild der Zeitgeschichte: Menschen vor alter Straßenbahn

Das Buch zur Ausstellung im Historischen Museum Basel dokumentiert Fluchtgeschichten von verfolgten Menschen aus Deutschland und den besetzten Gebieten, die in der Schweiz zu „Grenzfällen“ wurden.

Es ist der 21. August 1944. Ein Zug mit 318 Passagieren an Bord fährt im Schweizer Bahnhof in Basel ein. Er kommt aus Deutschland, aus dem im Landkreis Celle gelegenen Konzentrationslager Bergen-Belsen, hat die Strecke ohne Zwischenhalte zurückgelegt. Die Passagiere sind Juden aus Ungarn – Frauen, Männer und Kinder.

Nach dem Willen der im März 1944 ins Land eingefallenen neuen Machthaber aus Nazi-Deutschland sollten diese Menschen in den Vernichtungslagern ermordet werden. So wie mehr als 550.000 andere jüdische Ungarn. Ein kleines zionistisches Hilfskomitee in Budapest unternahm jedoch eine Rettungsaktion: Ihr Leiter, der Rechtsanwalt und Journalist Reszö Kasztner, war direkt mit dem für die Deportationen zuständigen SS-Mann Adolf Eichmann in Verhandlung getreten. Und er hatte die Freilassung von 1700 Menschen und ihre Ausreise in die Schweiz erreicht – gegen eine Lösegeldzahlung von 1000 US-Dollar pro Leben.

Doch der Zug, der am 30. Juni Budapest verlässt, fährt zunächst nach Deutschland, nach Bergen-Belsen. Dort müssen die Geretteten erst einmal warten, bis sich die Parteien dieses Teufelspakts geeinigt haben. Als es Kasztner nach zähem Ringen gelingt, die seitens der SS immer weiter nach oben geschraubten Forderungen zu erfüllen, fährt der erste Zug los. 1351 Leute müssen aber noch bis Dezember in der Ungewissheit des Lagers ausharren, erst dann gibt es freies Geleit für den zweiten Kasztner-Zug. 

Diese Geschichte ist eine der im Buch dokumentierten Fluchtgeschichten von verfolgten Menschen aus Deutschland und den besetzten Gebieten, die in der Schweiz zu „Grenzfällen“ wurden. Besonders in Basel, wo es grenzübergreifende Fluchtnetzwerke gab, aber auch eine NSDAP-Organisation mit 4000 Mitgliedern und eine Hitler-Jugend. Eine Ausstellung im Historischen Museum Basel präsentiert noch bis zum 30. Mai eine Auswahl dieser „Grenzfälle 1933–1945“, anhand von profunden Recherchen, Dokumenten, Bildern und persönlichen Gegenständen so mancher Geflüchteter und Einheimischer.

Das Buch ist mehr als ein Begleitbuch zur Ausstellung: In mehreren Beiträgen werden die verschiedenen Aspekte der Schweizer Flüchtlingspolitik und der Politik gegenüber dem NS-Regime analysiert und Legenden entlarvt. Beleuchtet wird etwa auch die Rolle der Basler Unternehmen, die während der NS-Zeit die Beziehungen zu Deutschland aufrechterhielten und sich den politischen Gegebenheiten anpassten. Ein Buch, das viele Wissenslücken schließt.

Buchcover Grenz Fälle

Grenzfälle
Basel 1933–1945
von Alexandra Heini & Patrick Moser (Hrsg.)
Verlag: Christoph Merian, 2020
284 Seiten, gebunden
Preis: 38 Euro

 

 

Foto: © Archiv fuer Zeitgeschichte ETH Zuerich BASJ-Archiv