Berührende Schicksale: Neues Buch über regionale Fluchtgeschichten in der NS-Zeit Kultur | 14.11.2018 | Erika Weisser

Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, wurden in Deutschland überall die Synagogen zerstört und die Läden jüdischer Geschäftsleute geplündert – auch in Freiburg. Die Eskalation antisemitischer Hetzjagden führte zu einem Anstieg der Emigrations- und Fluchtversuche, von denen längst nicht alle glückten. Denn auch in der nahen Schweiz fanden Juden keine legale Zuflucht mehr. Wolfgang Benz, Johannes Czwalina und Dan Shambicco (Bild) haben jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem sie einige Schicksale dokumentieren. Darunter auch welche von Freiburgern.

Drei Jahre, sagt Dan Shambicco, hätten sie an der umfassenden Dokumentation gearbeitet. Sie konnten dabei außer auf ihr eigenes Archivmaterial aus der von ihnen im Grenzort Riehen betriebenen „Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkriegs“ auch auf viele Gespräche mit Zeitzeugen zurückgreifen, die bis heute im Dreiländer­eck leben. Er selbst hat den Großteil dieser Gespräche geführt, sie waren ein Schwerpunkt seiner Mitarbeit am Buch.

Der 27-Jährige hatte dabei Begegnungen, die ihn „tief berührten“. Eine beim Gespräch 83-jährige Frau vertraute ihm etwa an, dass sie „nie zuvor mit einem Fremden über diese Vergangenheit gesprochen“ habe, die sie bis heute belaste. Als Tochter eines der 4000 NSDAP-Mitglieder, die damals in Basel lebten, habe sie nämlich „bei der Basler Hitlerjugend mitgemacht“, die engen Kontakt zur Freiburger HJ hatte und mit der sie an großen Aufmärschen teilnahm, die „mit Musikbegleitung und euphorischem Jubel der Bewohner durch die Stadt“ zogen.

Shambicco traf aber auch eine heute 90-jährige Baslerin, deren Mutter aus Freiburg stammte und deren jüdische Familie nicht nur den Freiburger Großeltern zur Emigration verhalf, sondern auch immer wieder Flüchtlinge aufnahm und versorgte, auch illegale. Legale seien seit Oktober 1938 kaum mehr über die Grenze gekommen: Für die nach einer Vereinbarung der Schweiz mit Nazideutschland mit einem roten „J“ gekennzeichneten Reisedokumente jüdischer Menschen war ein Visum erforderlich – das üblicherweise nicht erteilt wurde.

Er interviewte zudem eine jetzt 96 Jahre alte gebürtige Freiburgerin, die nach der Nazi-Rassenterminologie als „Halbjüdin“ galt. Sie erinnerte sich zwar an eine ungetrübte Kindheit mit Ausflügen auf den Schauinsland, aber auch daran, dass sie immer versucht habe, „das Jüdische zu verstecken“. 1942 war sie 20, als sie allein auf gut Glück über die grüne Grenze bei Bettingen in die Schweiz ging. Wo sie aber erst einmal interniert wurde, weil sie nicht nachweisen konnte, „dass ich verfolgt wurde“. Immerhin aber wurde sie nicht zurückgewiesen.

Die Brüder Siegfried und Walter Weil aus Eichstetten und Freiburg hatten dieses Glück nicht. Zwar gelang ihnen im Januar 1939 über die Untergründe des Badischen Bahnhofs noch die illegale Einreise, doch kurz darauf wurden sie in Riehen aufgegriffen und zurück nach Deutschland geschickt. Wo sie später ermordet wurden.

Das Buch ist ein ausgezeichneter, ein erhellender Beitrag zur Regionalgeschichte in finsterer Zeit.

Info:
Lesung & Gespräch: 13. Dezember 2018, 18.30 Uhr
Universitätsbibliothek Freiburg
www.gedenkstaetteriehen.ch

Nie geht es nur um ­Vergangenheit
Schicksale und Begegnungen im Dreiland 1933–1945

von Wolfgang Benz, Johannes Czwalina, Dan Shambicco
Verlag: Dittrich, 2018
504 Seiten, Broschur
Preis: 19,90 Euro

Foto: © Marcel Zehnder