Zum Schmökern – Buchtipps Kultur | 17.10.2020 | Erika Weisser

Autorinnen und Autoren aus dem Elsass, der Schweiz und Baden haben in den letzten Monaten Bücher vorgelegt, die sich mit besonderen Menschen, historischen Persönlichkeiten, grenzüberwindenden Überlegungen, einer Lebenswende und verlassenen Orten beschäftigen.

Faszination des Verlassenen

In vielen Dörfern, Städten, Wäldern, Landschaften gibt es sie: Häuser, die leer stehen, Fabriken, die nicht mehr rentabel waren, Gaststätten, die geschlossen wurden, Autos, die jemand abgestellt hat, ehemalige Hotels oder Sanatorien, die einst viele Erholungssuchende beherbergten, Bauernhöfe, deren Bewohner längst weggezogen oder auch schon verstorben sind.

Verlassen und oft auch vergessen sind diese Orte, geheimnisvoll und manchmal unheimlich. Denn in vielen Fällen sind Spuren der Menschen zu finden, die hier früher lebten und liebten oder stritten, sich freuten oder litten, arbeiteten oder faulenzten, glücklich oder traurig waren. Manche Gebäude wirken so, als seien sie erst vor wenigen Tagen verlassen worden; Wäsche hängt an der Leine im Keller, ein Topf steht noch auf dem Herd, eine Schreibmaschine mit eingespanntem Blatt thront auf einem Büroschreibtisch, Ordner mit persönlichen oder betrieblichen Unterlagen sind in längst verstaubten Regalen zu finden.

„Lost Places“ – verlorene Orte nennt man sie. Und sie haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt, werden gesucht und aufgesucht von Leuten, die sich der Fotografie dieser besonderen Locations verschrieben haben und die Immobilien und ihre Geschichte respektieren, nichts mitnehmen und nichts hinterlassen. Aber auch von Leuten, die zu Vandalismus neigen, die dort einfallen, Türen, Fenster und mehr zerstören, Partys feiern und ihre Anwesenheit mit besprühten Wänden dokumentieren.

Gärtnerei

Jasmin Seidel gehört zu denen, die sich diesen Orten mit Respekt und Interesse nähern: Bevor sie sie besucht und fotografiert, recherchiert sie über ihre Geschichte, versucht, den Besitzer oder Verwalter ausfindig zu machen und die Gebäude nur mit Genehmigung zu betreten. Die Arzthelferin, die aus Waldkirch stammt und in Pfaffenweiler wohnt, hat nun ihren ersten, ausgesprochen gut gelungenen Bildband mit solchen Lost Places vorgelegt, die sie im Schwarzwald gefunden hat und deren Standort sie nicht preisgibt: Diese Orte, sagt sie, „sind wie Zeitkapseln, die sich für uns öffnen und uns in eine ferne Vergangenheit reisen lassen“. Und das soll so bleiben. 

Cover Lost Places

Lost Places im Schwarzwald
von Jasmin Seidel
Verlag: Gmeiner, 2020
192 Seiten, gebunden
Preis: 24 Euro

 

 

Geisteswissenschaftler

Anatol hat es nicht leicht. Der studierte Geisteswissenschaftler träumt von einer Autorenkarriere – und arbeitet als Allrounder in einem Altersheim. Glück – auch bei Frauen – kennt er nur vom Hörensagen. Trotzdem strebt er danach, steht sich und seinen Träumen aber selbst im Weg. Als sich die Gelegenheit bietet, an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen, wagt er diesen Schritt. Doch bald muss er erkennen, dass man auch woanders kein anderer ist. Der Basler Autor Lukas Linder erweist sich als freundlicher Beobachter menschlicher Schwächen. 

Cover der Unvollendete

Der Unvollendete
von Lukas Linder
Verlag: Kein & Aber, 2020
286 Seiten, gebunden
Preis: 22 Euro

 

 

 

Kabarett 

„Beim Unwort des Jahres 2020 haben wir die Wahl zwischen Coronavirus und Grenze“, schreibt Isidore Lumière, „Rektor der Gedankenschmuggler-Universität in den Hochvogesen“, das Alter Ego von Martin Graff, in seinem Vorwort zu dessen „Grenzkabarett“. Darin macht sich der zweisprachige Autor spitzfindige Gedanken – nicht nur über die Zeiten, in denen sich täglich neu geforderte Grenzen „ausbreiten wie Blütenstaub im Frühling“. Er entzündet ein schonungslos freundschaftliches Feuerwerk deutsch-französischer Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Cover Grenzkabarett

Grenzkabarett
von Martin Graff
Verlag: Morstadt, 2020
84 Seiten, broschiert
Preis: 12,90 Euro

 

 

 

Der gottverreckte Krieg

„Ich frage mich, wovon er träumt.“ Das ist der einzige Satz, den Valentin Moritz an einem langen Tag voller Selbstzweifel und  Schreibblockaden zustande gebracht hat. Und dem er zugesteht, „eigentlich kein schlechter Anfang“ zu sein. Und so steht dieser Satz auch am Anfang des Buchs, in dem Moritz die Lebensgeschichte seines Großvaters Josef Mutter wiedergibt. Den ungewöhnlichen Werdegang eines streitbaren Mannes, der fast 94 Jahre lebte, der elf Jahre alt war, als die Nazis an die Macht kamen, der in den „gottverreckten Krieg“ musste und in Gefangenschaft geriet – und der aus der Geschichte gelernt hat.

Diesen Satz denkt der Enkel am Sterbebett dieses einst so tatkräftigen und oft „richtig bockigen“ Landwirts und  Holzhändlers, der die meiste Zeit seines Lebens in Niederdossenbach bei Schwörstadt verbrachte. Und während er Abschied nimmt, beteuert er, dass er „noch  etwas macht“ aus den Erinnerungen, die der Großvater an seinem 90. Geburtstag in sein Aufnahmegerät gesprochen hatte.


Ein Glücksfall, dass es ihm gelungen ist: Das bemerkenswerte Porträt eines Menschen, dem es um Menschen geht statt um Helden, Volk und Vaterland. 

Cover Kein HeldKein Held
von Valentin Moritz
Verlag: Badischer Landwirtschafts-Verlag, 2020
220 Seiten, gebunden
Preis: 18 Euro

 

 

 

Der Freiheit geht’s voran

Im April 1848 verlässt Friedrich Hecker, radikaldemokratischer Abgeordneter der Zweiten Badischen Kammer, seine gutgehende Anwaltskanzlei in Mannheim. Er begibt sich nach Konstanz, um von dort aus einen revolutionären Aufstand gegen die Monarchie und für die Einführung einer parlamentarischen Republik zu organisieren und mit vielen Gleichgesinnten zur Residenz in Karlsruhe zu ziehen.


Frank Winter, wie Hecker im Kraichgau geboren, zeichnet die einzelnen Stationen dieses in die Geschichte eingegangenen „Heckerzugs“ für Freiheit und Demokratie gleichermaßen fundiert und fiktiv nach. Und er beschreibt, wie die Revolution an der Übermacht der gegnerischen, aus allen deutschen Ländern zusammengewürfelten monarchistischen Militärtruppen scheitert: Die Freischärler werden zerschlagen, Hecker emigriert in die USA.


Dass er in Illinois dem ebenfalls ausgewanderten und mit dem Autor verwandten Johann Winter begegnete, ist nicht belegt, gibt der Geschichte aber eine schöne Spannung. Belegt ist hingegen, dass er von 1861 bis 1864 im Sezessionskrieg freiwillig gegen die Sklaverei kämpfte. Ein lesenswerter Roman mit einem Vorwort von Ururgroßenkel Lansing Hecker. 

Cover Heckerroman

Den Feigen tritt jeder Lump!
von Frank Winter
Verlag: Oktober Verlag, 2020
198 Seiten, Broschur
Preis: 14,90 Euro

 

Fotos: © Jasmin Seidel