Schöpfung und Antichristie: Die Freiburger Literaturtage spannen einen weiten Bogen 4Literatur & Kolumnen | 01.11.2024 | Erika Weisser
Autorin Anja Utler stellt ihren Lyrikband „Es beginnt. Trauerrefrain“ vor„Es beginnt der Tag“. So lautet das Motto für die 38. Auflage des Freiburger Literaturgesprächs, das vom 7. bis 10. November in zwei Freiburger Theatern, im Historischen Kaufhaus sowie im aktuellen, kürzlich mit dem Zukunftsgut-Preis für innovative Kulturvermittlung ausgezeichneten Literaturhaus stattfindet. Dessen Leiter Martin Bruch und seine Kolleginnen Katharina Knüppel und Birgit Güde freuen sich auf vier Tage der „Begegnung und des Austauschs zwischen Schreibenden und Lesenden, zwischen öffentlichen Personen und Privatmenschen, zwischen neuen und etablierten literarischen Stimmen“.
Der möglicherweise offnungs-, doch vielleicht auch unheilahnungsvolle Satz, den die Kurator·innen dieses ältesten Literaturfestivals in der Region als Leitmotiv für die dies-
jährige Veranstaltung gewählt haben, stammt von Anja Utler: In ihrem Lyrikband „Es beginnt. Trauerrefrain“ beginnt jedes der 209 darin enthaltenen, sich am Rand des Sagbaren entlangtastenden Kurzgedichte mit dieser Zeile. Die in Leipzig lebende Lyrikerin bringt dieses Werk, das im April 2024 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde, am frühen Samstag um 9 Uhr im Literaturhaus zur Lesung – und ins Gespräch mit Literaturvermittler Thomas Geiger.
Eröffnet wird das Literaturgespräch am Donnerstagabend im Historischen Kaufhaus von einem anderen Huchel-Preisträger: Raoul Schrott. Er erhielt diesen Preis vor genau 25 Jahren, für sein Werk „Tropen. Über das Erhabene“. Nicht weniger erhaben – und passend zum Leitmotiv vom beginnenden Tag – ist sein „Atlas der Sternenhimmel und der Schöpfungsmythen der Menschheit“, den er nun zu einer singulären Vorab-Premiere mit nach Freiburg bringt.
Darin dokumentiert der österreichische Autor und Literaturwissenschaftler das Wissen von 17 über alle Kontinente verteilten Kulturen über die Sterne, die Sonne, den Mond und die Planeten. Und wie die Sternenhimmel und die Sagen seit Jahrtausenden aufs Engste mit den jeweiligen Vorstellungen von der Entstehung der Welt verbunden sind.
Auf die Genesis folgt der Untergang oder zumindest die Krisen, die zu diesem führen könnten: Am Freitagabend präsentiert Clemens Meier seinen Roman „Projektoren“, ein Epos, das „rasant und schonungslos von unserer an der Vergangenheit zerschellenden Gegenwart erzählt“, wie Martin Bruch sagt. Er spinnt darin verschiedene Fäden von den einstigen Partisanen- und späteren Jugoslawienkriegen, von alten und neuen Nazis, von Indianerfilmen und Abenteuerromanen – und verrät dem Feuilletonisten Andreas Platthaus, wo sie zusammenlaufen.
Nach einer Sonntagsmatinee mit Mithu Sanyals „Antichristie“, in dem es um den fortdauernden Kolonialismus, um den „Appetit auf Rebellion und Halluzination“ und die Frage „des richtigen Widerstands in der falschen Zeit“ geht, neigt sich auch der letzte Festivaltag dem Ende zu: Unter dem Titel „Vertrauen in das Wort“ untersuchen die israelische Dramatikerin Sivan Ben Yishai und die schweizerische Schriftstellerin Ivna Žic, wie ein Krieg – nicht nur der seit einem Jahr im Nahen Osten wütende – die Sprache verändert, was die Taten, die Bilder mit der Wahrnehmung und damit dem Denken und Handeln der Menschen machen. Denn für viele beginnt der Tag mit blanker Gewalt.
Das ganze Programm: literaturhaus-freiburg.de
Foto: © Tom Langdon