Experten fordern: Sitzenbleiben gehört abgeschafft Schule & Lernen | 29.09.2024 | Mario Wachter & Fanny Heib

Ist Sitzenbleiben noch zeitgemäß? „Mr. Pisa“ Andreas Schleicher fordert, es abzuschaffen. Er ist Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ist das eine gute Idee? Das f79 hat Experten befragt – und einen jungen Mann, der selbst mal eine Ehrenrunde drehen musste.
„Absolut demotivierend“
Bildungsexperten hierzulande diskutieren schon seit Jahrzehnten darüber, ob das Sitzenbleiben abgeschafft werden soll. Doch was wären probate Alternativen? Ein Gespräch mit einem Wiederholungstäter, Pädagogen und Professoren.
Alle Schüler*innen kennen ihn: den finalen Moment der Wahrheit. Hochsommer, letzte Schulstunde, Zeugnisausgabe. Die flimmernde Luft scheint statisch geladen, die lang ersehnte Freiheit zum Greifen nah – doch plötzlich kommt alles ganz anders. Im Zeugnis steht eine Fünf zu viel, womöglich sogar eine Sechs. Schon sind die Ferien im Eimer.
Das Sitzenbleiben kann sich gewaltig auf die Psyche der Schüler*innen auswirken, berichtet Tomi Neckov, Vizepräsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands: „Das alles ist absolut demotivierend und emotional sehr belastend für die Kinder.“ Folglich plädiert er gegen eine Wiederholung von Klassenstufen. Er fordert eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit den ursächlichen Problemfächern. Neckov sagt: „Es ist schlichtweg ineffektiv, ein gesamtes Jahr wegen vereinzelter Schwachpunkte zu wiederholen.“
20 Prozent sind sitzengeblieben
Auch Bildungsexperte Torsten Eckermann vertritt die Ansicht: „Die Schüler*innen sollten nicht Tabula rasa machen, sondern Lernrückstände durch differenzierte Arbeitsmaterialien und Nachprüfungen aufholen können.“ Schnell wird deutlich: Es handelt sich um ein stigmabehaftetes Thema. „20 Prozent der 15-jährigen Schüler sind bis zur neunten Klasse einmal sitzengeblieben“, bilanziert der Professor für Empirische Unterrichtsforschung, „doch die wenigsten geben das freiwillig zu.“

Nochmal von vorne? Experten sagen: Das bringt wenig – und kostet viel.
Eine Ausnahme ist Michael Müller (Name geändert). Der heute 19-Jährige hat letztes Jahr sein Abitur gemacht – davor ist er jedoch in der 8. Klasse sitzengeblieben. Ob das einen positiven Einfluss auf seine Schullaufbahn hatte? „Meine Leistung war in dem Wiederholungsjahr tatsächlich viel besser. Das lag aber auch einfach daran, dass ich den Stoff schon kannte.“ Langfristig habe diese Maßnahme allerdings keinen Leistungsschub gezeitigt – vor allem wegen seiner eigenen Faulheit, gesteht er sich ein (mehr im Interview).
Sitzenbleiben kostet Millionen
Für Torsten Eckermann ist es kein Wunder, dass die Klassenwiederholung nur selten den gewünschten Effekt erzielt. Es gebe kaum empirische Daten, die einer solchen „Ehrenrunde“ eine tatsächliche Leistungssteigerung zuerkennen – im Gegenteil. Stattdessen wird der Ansatz, das Wiederholungsjahr auf Sparflamme zu absolvieren, vielen Wiederholungstätern zum Verhängnis.
Die Nachteile dieser Maßnahme sind den beiden Experten zufolge augenscheinlich – auch für die unbeteiligten Steuerzahler. Schließlich kostet das Sitzenbleiben den Staat jährlich zwischen 930 Millionen und eine Milliarde Euro. Ein schöner Batzen Geld, der laut Neckov anderweitig besser investiert wäre – vor allem in der gezielten Förderung der Schüler*innen.
Doch so streitbar diese Praxis auch erscheinen mag, ist es gemäß Eckermann illusorisch, sie von heute auf morgen abzuschaffen: „Dafür ist das Sitzenbleiben zu fest in der DNA unseres Bildungssystems verankert.“ Das wiederum ginge mit dem Trugschluss einher, dass Schüler*innen in homogenen Lerngruppen – also Klassen mit einem einheitlichen Lernniveau – besser arbeiten könnten. Allein aufgrund der Tatsache, dass die Sitzenbleiber zumeist ein Jahr älter sind als der Rest der Klasse, könne von Homogenität nicht die Rede sein. Schließlich weiß jeder, was ein Jahr bei pubertierenden Jugendlichen alles ausmachen kann.
„Sitzenbleiben bringt nichts“
Auch der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher fordert gegenüber der Stuttgarter Zeitung, das Sitzenbleiben abzuschaffen. „Sitzenbleiben bringt nichts“, sagt er. Wer eine Klasse wiederhole, bekomme eher zusätzliche Schwierigkeiten. Lernprobleme würde die Ehrenrunde nicht lösen. „Es bleibt ja alles beim Alten: Die Schüler wiederholen einfach den Stoff, den sie schon kennen, und machen dabei oft die gleichen Fehler noch mal.“
Fotos: © iStock.com/Kobus Louw, iStock.com/Janny2