„Wie ein Tsunami“ – Wie Uni und Schulen auf E-Learning umstellen KARRIERE & CAMPUS | 20.04.2020 | Till Neumann

Welle

Von null auf hundert. So geht es Schulen und Unis in Sachen E-Learning in Corona-Zeiten. Digital ist nichts Neues. Aber ausschließlich auf Distanz unterrichten? Darauf war keiner vorbereitet. Wie das dennoch funktionieren kann, berichten zwei Freiburger Lehrer.Sie sind schon mittendrin. An der Uni Freiburg laufen dafür die Vorbereitungen noch auf Hochtouren. Wie von einem Tsunami überrollt fühlt man sich in der Abteilung E-Learning.

„Wir sind voll dabei und es funktioniert!“ So jubelt Patrick Bronner Mitte März. Der Lehrer am Freiburger Friedrich-Gymnasium setzt schon länger auf Digitales. Davon kann er jetzt profitieren. Seine Achtklässler bekommen in Corona-Zeiten einen digitalen Mathetest mit vollautomatischer Korrektur. Mit einem Startcode können sie den von zu Hause aus machen – ohne Noten. Eine Referendarin liefert direkt das Erklärvideo zu den Aufgaben.

Das klingt einfach. Willkommen in der schönen neuen Home-Learning-Welt? Ganz so ist es nicht, erklärt der 41-Jährige: „Die Situation ist eine ziemliche Herausforderung für alle.“ Nur rund 20 Prozent seiner Kollegen hätten schon vor dem Shutdown intensiv digital gearbeitet. Daher hätte es zum Start erst mal Spontanschulungen zu Clouds und Servern gebraucht. Die Stimmung im Lehrerzimmer sei angespannt gewesen.

Für Bronner, der 2016 „Deutschlands Lehrer des Jahres“ war, ist das eine bekannte Spielwiese: Tablets und Smartphones setzt er schon seit Jahren im Unterricht ein. Seine Schüler lässt er jetzt zu Aufgaben Erklärvideos drehen, die auf einer gemeinsamen Plattform bewertet werden können. Vormittags bietet er Präsenszeiten und Videochats an. Ergebnisse der Schüler könne er jetzt sogar besser auswerten als zuvor.

Die Freiburger Patrick Bronner und Dejan Mihajlovic

Digital-Cracks: Die Freiburger Patrick Bronner und Dejan Mihajlovic unterrichten nicht erst seit der Krise mit Tablet, Smartphone und Co.

Das digitale Klassenzimmer
Der Lehrer warnt aber auch: „Wenn man digitales Lernen übertreibt, kann es böse nach hinten losgehen.“ Es brauche daher klare Regeln. Vier Grundsätze für einen sinnvollen digitalen Unterricht hat er formuliert. Einer davon: Digitales darf nur temporär eingesetzt werden. In einer Doppelstunde maximal 30 Minuten. Solche Medien seien eine Ergänzung und keineswegs automatisch besser als andere.

Klar ist für ihn: Der reguläre Unterricht ist nicht zu ersetzen. Soziales und Interaktion fehlen. Ende März ist schließlich auch Bronner etwas gefrustet. Der Schulserver ist nach einem Update ausgefallen. Er merkt an: „Jede Firma mit über 50 Mitarbeitern hat eine IT-Abteilung mit studierten Informatik-Experten.“ In der Schule liege die Verantwortung für die gesamte IT in der Hand von einzelnen Lehrern, die diese Tätigkeit einfach so nebenher machen. Daher fordert er „ein vom Schulträger zentral gemanagtes Serversystem und einen verlässlichen Support von außen“. Ein neuer Server ist bestellt.

Auch Dejan Mihajlovic ist Digitalexperte. An der Pestalozzi-Realschule in Freiburg nutzt der Lehrer schon seit rund fünf Jahren eine Online-Beteiligungsplattform. „Da haben wir digitale Klassenzimmer“, sagt Mihajlovic. Der 43-Jährige stellt dort Aufgaben ein und kann mit Schülern kommunizieren. Als Beispiel: In Ethik lässt er Zehntklässler zu einem Artikel der Washington Post arbeiten. Danach gibt es ein Video-Hang-out, um die Ergebnisse in Kleingruppen zu besprechen.

Nicht alles funktioniert reibungslos. Aber Mihajlovic ist überzeugt: „In jedem Fach gibt es Wege, auf Distanz zu unterrichten.“ Selbst im Fach Sport könne man per Video eine Fitnessstunde anbieten. Die Ballettstunde seiner Tochter funktioniere ebenfalls so.

Lösung per WhatsApp
Ein Problem beim Homeschooling sei Bildungsungerechtigkeit. „Viele Schüler haben unterschiedlich gute Geräte,
müssen sie sich mit Geschwistern teilen oder es fehlt an Unterstützung.“ Auch mangelnde Bandbreite sei für Konferenzen ein Problem. Fehlende Kontrolle über die Schüler sieht er nicht als solches: „Ich gehe da andersrum ran“, sagt Mihajlovic. Schüler wollten ja lernen. Auch im richtigen Unterricht seien nicht alle immer bei der Sache.

„Wir müssen Lernprozesse völlig neu denken“, so Mihajlovic. Ein Lückentext zum Ausfüllen sei fragwürdig. Das werde von einem ausgefüllt und gehe direkt als Screenshot in die Schüler-WhatsApp-Gruppe. Die Schüler müssten vielmehr etwas Eigenes erarbeiten. Die Aufgabe des Lehrers sei, zu unterstützen und zu moderieren.

Der Druck auf alle Beteiligten ist groß. Als Lehrer wisse er nicht, unter welchen Bedingungen zu Hause gearbeitet wird. Allein etwa? Oder mit vier Geschwistern in einem Zimmer? Sein Ansatz: Aufgaben, die auch unter bescheidenen Bedingungen funktionieren. Einer Klasse hat er aufgegeben, in Sozialen Netzwerken gute Seiten und Beiträge zum Thema Physik zu finden. Die Ergebnisse werden gemeinsam diskutiert.

Entscheidend ist für Mihajlovic außerdem, ein offenes Ohr zu haben für die Schülerinnen und Schüler. Denn persönliche Gespräche fehlen beim Lernen ohne Ansteckungsgefahr. Lehrer bemühen sich, das aufzufangen. Auch ein Videochat kann dabei helfen.

Uni stellt rigoros um
So weit ist die Uni Freiburg noch nicht. Sie hat ihren Semesterstart um drei Wochen verschoben. Losgehen soll es am 11. Mai – mit einem Paukenschlag: Prorektorin Juliane Besters-Dilger fordert alle Lehrkräfte auf, „ihre Lehrveranstaltungen so zu konzipieren, dass sie anstatt Präsenzlehre auch Fernlehre anbieten können.“

Hotspot wird dadurch die Abteilung E-Learning im Rechenzentrum. Was bisher eine kleine Zelle war, ist jetzt Dreh- und Angelpunkt. „Die aktuelle Situation überrollt unsere 563 Jahre traditionsreiche Präsenzuniversität gerade wie ein Tsunami“, berichtet Leiterin Nicole Wöhrle. Vor einigen Wochen sei E-Learning noch eine sinnvolle didaktische Ergänzung gewesen. Jetzt sehe das ganz anders aus.

Ob die technische Infrastruktur vorhanden sei? „Wir haben eine gut ausgebaute Lernplattform, die bisher die begleitende Betreuung der Präsenzlehre mit Lernmaterialien und Übungsbereichen sowie Videoinfrastruktur gut abgedeckt hat“, sagt die 45-Jährige. Es fehle aber ein umfassendes Konferenzsystem, um beliebig viele Liveschaltungen abzuhalten. In ihrer Abteilung arbeiten bisher gerade mal rund zehn Leute. Inselchen seien das gegenüber dem Tsunami, erklärt Wöhrle. Im Vergleich: Knapp 25.000 Studierende sind an der Uni immatrikuliert. Dazu kommen mehrere tausend Lehrkräfte.

Hürden für digitale Lehre seien bisher vor allem zeitliche Engpässe bei Lehrkräften gewesen. Es sei oft wenig Zeit geblieben, sich mit neuen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. „Heute scheint diese Herausforderung nahezu verschwunden“, sagt Wöhrle. Engpass sei jetzt – wie in Schulen auch – die Netzinfrastruktur. „Durch Homeoffice und Fernlehre
nutzen plötzlich alle Leitungskapazitäten wie nie zuvor.“

Jennifer Andexer und Heiko Winter

Preisgekrönt: Jennifer Andexer und Heiko Winter haben Erfahrung mit E-Learning. Auf 100 Prozent digital sind aber auch sie nicht vorbereitet.

„Zeitlich sehr aufwendig“
Das Problem wird auch auf zwei Dozenten zukommen, die sich mit Digitalem auskennen: Jennifer Andexer und Heiko Winter. Sie haben den eLearning-Förderpreis 2020 der Uni Freiburg bekommen. Gänzlich vorbereitet sind aber auch sie nicht. „Komplett neue E-Learning-Module zu erstellen, ist zeitlich sehr aufwendig“, sagt Andexer. Die 39-jährige Dozentin am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften hat die Erfahrung gemacht, dass die Diskrepanz zwischen dem gewünschten Ergebnis und dem technisch Möglichen frustrierend sein kann.

Zeitliche und örtliche Flexibilität seien ein Vorteil. Fehlende Interaktion und weniger direktes Feedback aber ein Problem. „Die geforderte Selbstständigkeit kann auch überfordernd wirken“, sagt Andexer. Zeitverzögerte Angebote von zu Hause aus hält sie für umsetzbar. Bei Live-Schaltungen für Seminare befürchtet sie Engpässe im Netz.

Ein persönliches Gespräch ist für Jennifer Andexer nie durch Telefon oder Video zu ersetzen. Außerdem seien Studiengänge in ihrem Fachbereich durch Praktika geprägt. „Würden Sie sich gerne von einem angehenden Chirurgen behandeln lassen, der nur am Computer gelernt hat, wo der Blinddarm ist?“ Sie ist überzeugt: Arbeiten und Lernen im Labor wird sich nicht komplett ersetzen lassen.

Asynchrone Seminare
Auch ihr Kollege Heiko Winter ist gespannt auf die neue Situation. Er habe zwar bereits ein kleines E-Modul angeboten, das sei aber ebenfalls auf Präsenz der Teilnehmer aufgebaut. Nutzen kann er es für Distanzlehre nicht.

Das Einfachste für den 42-Jährigen ist: „Wir nehmen Vorlesungen auf und stellen sie in kleineren Einheiten zur Verfügung.“ Die Interaktion fehle dann, aber austauschen könne man sich auch über Foren. Wichtig sei, dass asynchron gearbeitet werde. Das heißt, dass nicht alle parallel online gehen. Denn dafür reicht die Bandbreite nicht.

Ein großes Problem sieht er in Prüfungen. „Wie machen wir das?“ Es gebe Möglichkeiten, es sei aber nicht einfach, das in „eine didaktisch sinnvolle Form zu meißeln“. Bei aller Krise: Winter und Andexer sehen auch Chancen, neue Wege zu gehen. Unterstützung finden sie bei der Abteilung E-Learning. „Die macht sehr gute Arbeit und stellt uns Materialien zur Verfügung“, lobt Winter. Gegenseitige Hilfe ist jetzt gefragt. Und eine große Prise Optimismus. Winter fasst es in zwei Worten zusammen: „Wird schon.“

Fotos: © pixabay.com/EliasSch, Richard Kiefer – Lichtwerkstatt Kirchzarten, Fionn Große, Patrick Seeger