Wenn Gehörlose singen: Freiburg hat einen wohl einzigartigen inklusiven Chor Musik | 17.06.2023 | Till Neumann
Gebärdenpoesie trifft auf Gesang: Der Chor „Singende Hände“ geht ganz neue Wege.Hörende und Nichthörende singen neuerdings gemeinsam in Freiburg. Der Verein Zeug & Quer möchte mit dem Gebärdenchor „Singende Hände“ Brücken bauen. Die ersten zwei Auftritte sind geglückt. Doch der Weg dahin war intensiv. Für Teilnehmende ist das Angebot ein bisher nie Dagewesenes.
Bewegungen drücken Buchstaben aus
Zwei Frauen aus Freiburg bauen eine Gesangsgruppe auf, die wohl ihresgleichen sucht: Sophia Kirstein (hörend) und Stephanie Mündel-Möhr (taub) leiten gemeinsam den inklusiven Chor „Singende Hände“. 20 Menschen machen mit – 10 sind taub oder schwerhörend, die anderen nicht.
Die Idee kam Kirstein während des Lehramtstudiums an der Musikhochschule Freiburg. Dort wollte die 28-Jährige für ein pädagogisch-künstlerisches Projekt Chormusik und Gebärdenpoesie verbinden. Letzteres ist eine Kunstform der Gebärdensprache. „Sie arbeitet viel mit sowas wie Laut und Leise, aber dann in großen und kleinen oder langsamen und schnellen Bewegungen. Oder auch mit Reimen, die mit bestimmten Bewegungen oder Buchstaben ausgedrückt werden“, erklärt Kirstein.
Über den Gehörlosenbund Breisgauperle kam sie an ihre Kollegin Mündel-Möhr. Die war „Feuer und Flamme“. Die Aufgaben teilt sich das Duo auf: Kirstein übt Singen mit den Hörenden. Mündel-Möhr übernimmt das Üben der Gebärdenpoesie mit den Gehörlosen. Dann bringen sie mit der Gruppe beides zusammen. „Das Ziel ist, dass man nicht mehr erkennt, wer von denen auf der Bühne hörend oder gehörlos ist“, erklärt Kirstein. Die Nichthörenden machen dabei zumindest Lippenbewegungen.
Geglückt ist das bereits zweimal: Die Gruppe stand im Mai beim inklusiven Spieletag im Quartier Vauban auf der Bühne und auf dem Platz der Alten Synagoge beim Inklusionstag Freiburg. Drei Stücke hat das Ensemble drauf: ein alemannisches Volkslied, einen Kanon von Beethoven und ein Stück des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara.
„Als würde man sprechen und gleichzeitig in einer anderen Sprache singen“
„Es ist eine Menge Arbeit“, erklärt Mündel-Möhr. Das Kernteam treffe sich, um die Lieder vorzubereiten. Dabei wird der Text in Gebärdensprache übersetzt. Dann wiederum in Gedichtform, also Gebärdenpoesie. „Zuletzt müssen wir sehen, ob die Gebärden zum Rhythmus der Lieder passen“, erklärt die Chorleiterin. Die Krux dabei: „Wir müssen einen Weg finden, beides miteinander zu verbinden.“ Das sei so, als würde man eine Sprache sprechen und gleichzeitig in einer anderen singen.
Für die Deaf-Performerin (deaf = taub) und Schauspielerin Mündel-Möhr kann der Chor Teilhabe ermöglichen: „Zu oft werden taube Leute isoliert und von Veranstaltungen und dem täglichen Leben ausgeschlossen.“ Gebärdensprache könne durch das Projekt bekannter werden. Und Menschen, die bisher keine Erfahrung mit Musik machen konnten, tauchen in eine neue Welt ein. Kirstein berichtet vom für sie schönsten Feedback: „Die meisten Nichthörenden sagen, in der Schule hätten sie nie irgendwas mit Musik gemacht oder gelernt. Auf einmal hätten sie hier das Gefühl, sie könnten singen.“
Ihres Wissens gibt es in Deutschland keinen zweiten Chor in diesem Format, der so kontinuierlich am Start ist. Kirsteins Vision: den Chor in der Kulturszene zu etablieren und in größeren Sälen aufzutreten. Beispielsweise im Konzerthaus.
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Foto: © Cäcilia Oswald