chilli-Interview Oberbürgermeister Martin Horn: Verpasste Chancen in der Krise STADTGEPLAUDER | 18.02.2021 | Lars Bargmann

Oberbürgermeister Martin Horn

Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn im Interview mit chilli-Chefredakteur Lars Bargmann über Corona, Schulden und Eigentore.

chilli: Herr Horn, am 27. April soll der Gemeinderat den Doppelhaushalt (DHH) für 2021 und 2022 beschließen. Den Entwurf haben Sie mit Finanzbürgermeister Stefan Breiter Anfang Dezember vorgestellt. Bis zu 90 Millionen Euro neue Schulden „wollen“ Sie machen. Und noch 33,5 Millionen aus Rücklagen nehmen. Warum das?
Horn: Von wollen kann überhaupt nicht die Rede sein. Wir müssen neue Schulden machen. Wie Hunderte andere Kommunen auch. Wir hatten ein historisches Krisenjahr 2020, das massive Auswirkungen auf die Folgejahre haben wird. Zudem haben wir im Haushalt strukturelle Herausforderungen, Corona wirkt da als Beschleuniger, denn wir haben mehr Ausgaben und weniger Einnahmen. Das bedeutet Kreditaufnahmen aus Verantwortung unserer Stadt gegenüber. Wir können nicht aufhören, zu investieren, denn das wäre nicht nur Stillstand, sondern Rückschritt.

chilli: Der Gemeinderat soll 17 bereits gefasste Investitionsbeschlüsse zurückziehen, glauben Sie wirklich, das wird er?
Horn: Das hoffe ich sehr. Der Gemeinderat hat das Hoheitsrecht für den Haushalt. Aber wir haben 2020 schon 50 Millionen Euro neue Schulden gemacht und rechnen nun im Worst Case mit weiteren 90 Millionen bis Ende 2022. Und trotzdem können wir nicht so viele Schulen sanieren wie es nötig wäre, wir können noch nicht mal in allen Schulen WLAN aufbauen. Außerdem müssen wir geplante neue Stellen trotz zahlreicher Aufgaben und Projekte drastisch reduzieren.

chilli: Die Freien Wähler kritisieren, dass die guten Jahre nicht genutzt wurden, um Reserven zu bilden …
Horn: Die strukturelle Herausforderung kam nicht mit mir, die gab es schon in den Jahren zuvor. Wie hätten wir da Reserven bilden sollen?

chilli: Strukturelle Defizite gab es unter Böhmes Regentschaft, das ist doch lange vorbei. In den vergangenen Jahren lag der Ergebnishaushalt stets im Plus, das Geld wurde aber wieder in Investitionen gepackt.
Horn: Dann nennen wir es strukturelle Schieflage. Der finanzielle Spielraum wird für uns von Jahr zu Jahr enger. Deshalb werden wir gegensteuern und starten einen Reform und Priorisierungsprozess …

chilli: ... der vor allem in Wohnen, Schulen und Kitas, Digitalisierung, Klimaschutz und nachhaltige Mobilität investieren soll. Welche Schwerpunkte kristallisieren sich beim Beteiligungshaushalt heraus?
Horn: Vieles, was schon Thema bei unserer Bürgerumfrage war. Gemeinderat und Verwaltung sind offenbar sehr nah dran an dem, was die Bürgerschaft bewegt. Viele Vorschläge wollen etwa mehr Klimaschutz.

chilli: Andere die Aussetzung der Übernachtungssteuer.
Horn: Die Steuer ist vielseitig umstritten, das kann ich in der aktuellen Lage nachvollziehen. Aber im Kern verstehe ich die Kritik nicht. Denn die Gäste zahlen die Steuer, nicht die Hoteliers, und wegen ein paar Euro mehr kommt niemand nicht nach Freiburg.

chilli: Grüne Jugend Freiburg, Jusos Freiburg und Junges Freiburg fordern, 500.000 Euro beim Vollzugsdienst einzusparen.
Horn: Das wundert mich nicht. Ich glaube, dass die jungen Menschen sich damit ein Eigentor schießen. Der Dienst ermöglicht auch das Nachtleben, weil wir auf Ruhestörungen eingehen können, bevor härtere juristische Maßnahmen nötig wären.

chilli: Ein Vorschlag ist, den Flugplatz zu schließen, um die Flächen höherwertig zu nutzen.
Horn: Die Debatte wird emotional geführt werden. Aber wir halten uns an bis 2031 laufende Verträge.

chilli: Die Stadthalle möge fürs Museum für Neue Kunst umgebaut werden, mit Platz für Galerien …
Horn: Ich habe großes Verständnis für die Kultur, in der aktuellen Lage können wir uns aber keine weiteren Ausgaben leisten, vor allem nicht dort, wo hohe Nachfolgekosten entstehen.

Oberbürgermeister Martin Horn

Martin Horn: „Über 15-Kilometer-Regelungen kann ich nur den Kopf schütteln“

chilli: Beim Doppelhaushalt 2019/2020 hat der Gemeinderat kurz vor der Ziellinie noch ein „Feuerwerk“ an Mehrausgaben durchgesetzt. Rechnen Sie damit am 27. April erneut?
Horn: Wer Ausgaben veranlasst, trägt auch die Verantwortung für die extrem große Herausforderung eines bestmöglichen Haushalts. Ich bin guter Dinge, dass eine weitere Belastung des Haushalts nicht exorbitant zunimmt.

chilli: Als der Haushaltsentwurf aufgestellt wurde, war der zweite Lockdown noch nicht da, muss nachjustiert werden?
Horn: Sie treffen voll ins Schwarze. Wir haben den Entwurf auf Annahmen aus dem Oktober aufgestellt. Nun haben wir einen Lockdown im Dezember, im Januar, mindestens bis Mitte Februar. Es kommen noch hinzu der Verzicht auf die KITA-Gebühren, 1,4 Millionen Euro allein für den Januar, die Reduzierung der erwarteten Vorauszahlungen auf die Übernachtungssteuer um einen Millionenbetrag sowie die verringerte Vergnügungssteuer, das sind wieder viele Millionen Verschlechterung.

chilli: Noch siebenstellig?
Horn: Noch ja, aber es kann schnell zu einem niedrigen achtstelligen Betrag werden. Es geht einfach darum, dass wir jetzt zwar eine starke Bremsung hinlegen, aber nur, um nicht beim nächsten DHH eine unkontrollierte Vollbremsung machen zu müssen.

chilli: Verschwindet das Motiv generationengerechtes Handeln hinter den Auswirkungen der Pandemie?
Horn: Generationsgerechtigkeit ist in diesen Zeiten noch wichtiger und das versuchen wir ja auch in unserem DHH auszudrücken. Wir haben nicht nur eine Corona-, sondern auch eine Klimakrise. Wir brauchen Investitionen in Kitas, Schulen, bezahlbares Wohnen. Klima- und Artenschutz haben auch mit Gerechtigkeit zu tun, das ist ohne neue Schulden nicht möglich.

chilli: Der Zuspruch fürs Pandemiemanagement der Bundesregierung im Volk schwindet.  Auch Sie selbst teilen längst nicht alle Verordnungen, die da immer ein bisschen zu viel ad hoc und mit Flickenteppichen, ein bisschen zu wenig mit strategischer Weitsicht erlassen wurden. Was erwarten Sie von Berlin und Stuttgart 2021?
Horn: Freiburg war im März 2020 ein Hotspot, wir haben als erste Stadt ein Betretungsverbot ausgesprochen und so selber zum Flickenteppich beigetragen. Dann übernahmen die Länder die Regelungen mit unterschiedlichsten, oft auch zu kurzfristigen Verschärfungen. Viele Menschen verstehen das einfach nicht mehr. Ich kann etwa über eine 15-Kilometer-Regelung nur den Kopf schütteln. Da entfernt sich Politik zu weit weg von der Lebensrealität der Menschen.

chilli: Die Länderchefs haben sich profiliert und dafür ein großes Durcheinander akzeptiert.
Horn: Die Einschätzung teile ich. Ich finde es jetzt sehr wichtig, ein Öffnungsszenario nicht auch wieder im Flickenteppich-Stil zu machen. Was passiert denn, wenn Freiburg bei der Inzidenz unter 50 rutscht. Können, müssen wir dann sofort etwas ändern? Müssen wir unsere Masken-pflicht in der Innenstadt aufheben? Wie ist die Rechtslage? Es ist auf jeden Fall zu verhindern, dass der eine Landkreis das anders macht als der andere Stadtkreis. Wir brauchen klare Maßstäbe, wie lange halten wir an was fest oder eben nicht.

chilli: Die Leute sind pandemiemüde …
Horn: In der jetzigen Phase nehme ich auch Resignation wahr, auch in meinem Bekanntenkreis. Wir müssen der Bevölkerung Mut zusprechen, brauchen positive Nachrichten. Wir hatten lange  die landesweit niedrigsten Inzidenzen. Freiburg hat sich offenbar hervorragend verhalten. Und die Freiburger können sich auf die Stadtverwaltung verlassen.

chilli: Werbung könnte auch die Innenstadt gebrauchen, dort wächst die Leerstandsquote.
Horn: Wir können noch gar nicht abschätzen, wie stark und dauerhaft der Innenstadthandel geschädigt ist. Die Menschen haben jetzt ein Jahr fast nur online gekauft, auch bei lokalen Händlern, aber überwiegend bei den Großen. Ob es alle schaffen, zurückzukommen, muss man sehen. Ich freue mich, dass wir noch vor dem Sommer einen Innenstadtkoordinator einstellen. Er oder sie soll für die Händler und Gewerbetreibenden, die zentrale Ansprechperson bei der Stadt sein und neue Akzente setzen.

chilli: Die Verwaltung hat für die Absage eines neuen Eisstadions von vielen Seiten Kritik geerntet. Wie gehen Sie damit um?
Horn: Wir haben in verschiedenste Richtungen alles ernsthaft geprüft und sagen nun ehrlich, dass das jetzt nicht geht. Wie wir jetzt noch einen zweistelligen Millionenbetrag im Kernhaushalt darstellen sollen, soll mir mal einer erklären.

chilli: Das Rathaus ist doch geübt im Investieren außerhalb des Kernhaushalts …
Horn: Natürlich hat auch ein Investoren oder ein anderes externes Modell hohe Folgekosten für die Stadt. Wir prüfen weiter.

chilli: Gibt es Angebote von Investoren?
Horn: Zwei.

chilli: Glauben Sie, dass die DEL die schon gefühlt ewig nur mit einer Ausnahmegenehmigung lizenzierte Arena über 2024 hinaus zulässt?
Horn: Das ist meine große Hoffnung. Wir sind an der Stelle auf dünnem Eis unterwegs.

chilli: Auf einem ebensolchen wandelt auch die EU. Die Union hat mit „Great“ Britain ein wichtiges Mitglied verloren, die Idee Europa mag für viele noch Strahlkraft haben, anderen scheint sie mehr und mehr zu einer Geber- und Nehmergesellschaft zu verkommen. Hat Europa ein gutes oder ein schlechtes Jahr hinter sich?
Horn: Ich bedaure den Brexit, aber Europa ist auch ohne Großbritannien lebendig. Europa ist auf der einen Seite enger zusammengerückt, auf der anderen gibt es auch Kleinstaaterei. Natürlich müssen wir bei solchen Themen wie dem Impfstoff europäisch denken. Wir haben ganz enge Kontakte nach Frankreich und in die Schweiz. Ich bin ein junger, überzeugter Europäer, in Krisenzeiten mehr denn je.

chilli: Die Regierungen in Polen und Ungarn halten nicht so viel von dem, was wir Rechtsstaatlichkeit nennen …
Horn: Aktuell haben wir ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, ich hoffe, dass das künftig wieder mehr im Gleichschritt passiert.

chilli: Was sind für Sie vor Ort die wichtigsten Weichenstellungen in 2021?
Horn: Die Landtags- und Bundestagswahlen werden uns intensiv beschäftigen, ebenso das Thema weiterer Rettungspakete für Kommunen und die Schwerpunkte im Haushalt. Ich hoffe auf eine nachhaltige Eindämmung der Pandemie, damit wir uns wieder auf die eigentlichen Herausforderungen konzentrieren können und die Stadtgesellschaft wieder belebt wird.

chilli: Worüber haben Sie sich am meisten geärgert?
Horn: Die ganze Bürgermeisterbank ist enttäuscht, wie schlecht die Auszahlung der Hilfen für die notleidenden Unternehmen läuft. Zudem sehe ich verpasste Chancen in der Krise. Anstatt umzusteuern und neue, zukunftsorientierte Wege zu gehen, wurde der alte Zustand teilweise durch viel, viel Geld zementiert.

chilli: Herr Horn, Danke für dieses Gespräch.

Fotos: © Stadt Freiburg, Patrick Seeger