Der Takt des Todes: Jess Jochimsens „Abschlussball“ ab heute im Handel STADTGEPLAUDER | 09.06.2017

„Von den großen Friedhöfen der Stadt ist mir der Nordfriedhof am liebsten. Er ist ruhig, schlicht und vor allem gut ausgeschildert. Außerdem gibt es dort viel Schatten.“, lässt Jess Jochimsen den Münchener Beerdigungsmusiker Marten zu Beginn seines neuen Romans „Abschlussball“ sagen. Und sich damit selbst trefflich charakterisieren: Marten, der sich schon als Kind als auffallend schweigsam, antriebslos, kontaktscheu und „irgendwie vorzeitig gealtert“ empfand, kann nur an überschaubaren, geordneten, unveränderbaren sowie verborgenen und somit sicheren Orten existieren.

Deshalb entscheidet er sich nach der mit großem Gleichmut gegenüber den Hänseleien der Mitschüler, den Bloßstellungen der Lehrer und auch den Lerninhalten absolvierten Schule für einen Beruf, der diese Existenzbedingungen gewährleistet: Er lässt sich zum Bibliothekar im Staatsdienst ausbilden. Die systematisch sortierten Bücher, deren unveränderbare Inhalte, die Sicherheit des Beamtendaseins und vor allem die Aussicht, nicht mit anderen Menschen kommunizieren zu müssen, lässt ihm diese Tätigkeit als geradezu ideal erscheinen.

Und er übt sie auch ziemlich lange aus, wird zum eifrigen Leser und peniblen Katalogisierer, der nach der überschaubaren und eher unanstrengenden Arbeit ausgiebig schläft – so wie er es seit jeher getan hat. Und auch dabei wird er nicht behelligt: Schon im ersten Lehrjahr mietet er sich eine kleine Wohnung, und schafft sich seinen „zweiten Rückzugsort“ und wird „endlich Herr meiner Lage“. Als er es jedoch wagt, mit einer Kollegin eine seltsam unverbindliche Beziehung einzugehen, gerät diese Lage beträchtlich ins Wanken, seine geordnete Welt aus den Fugen.

Mit dem Ergebnis, dass Marten zu seiner offenkundigen Bestimmung findet: Als Trompeter bei Begräbnissen zu musizieren. Die ewig gleichen, bestenfalls durch besondere Begleitungsmusikwünsche variierenden Rituale, die Nähe zur Endgültigkeit und die von der Anwesenheit des Todes bedingte Distanziertheit der Lebenden geben ihm wieder Halt und Struktur. Bis zu dem verhängnisvollen Tag, der alles auf den Kopf stellen soll.

An diesem Tag, eröffnet der Bestattungsunternehmer Berger seinen musikalischen Mitarbeitern, soll bei einer der zunehmenden Bestattungen von Verstorbenen, die keine Angehörigen mehr haben, einen „Abschlussball“ geben: Ein Begräbnis, zu dem alle Menschen, eingeladen sind, die Zeit und Lust haben, einem einsamen Menschen das letzte Geleit zu geben. Und hinterher ausgiebig zu essen, zu trinken und das Leben zu feiern. Zwar mag Marten diese Veranstaltungen nicht, weil sie die Ruhe stören. Doch die Teilnahme ist für alle Musiker Pflicht. Und dieses Mal wird es besonders laut. Durch eine anonyme und sehr beachtliche Geldspende kann Berger sich Champagner und die Mitwirkung der Brass Band leisten – die es übrigens wirklich gibt.

Der Verstorbene ist indessen ein früherer Mitschüler von Marten. Und nach der Beerdigung findet er dessen Bankkarte. Die dem bisherigen Lebensverweigerer die Welt öffnet. Und ihn in Abenteuer stürzen lässt und in nie zuvor gekannte Gefühle.

An diesem – seinem zweiten – Roman hat der Freiburger Kabarett und Autor Jess Jochimsen nach eigenen Angaben etwa vier Jahre lang gearbeitet. Und verbrachte in diesem Zusammenhang natürlich auch viel Zeit auf dem Nordfriedhof seiner Heimatstadt München. Auf diesem „hochliterarischen Friedhof“ kam er mit Trauermusikern ins Gespräch, lernte er all die Menschen kennen, die diese Friedhöfe bevölkern. Und beleben.

Einige von ihnen sind als literarische Figuren in sein Buch eingegangen, das über weite Strecken zu einer philosophischen Betrachtung über die Bedeutung der Zeremonien des Abschieds geraten ist – und über, über die Würde, die der „Takt des Todes“ diesen Abschieden verleiht. Doch es ist weit mehr als ein – übrigens auch ziemlich heiteres – Buch über Beerdigungsmusik: Es ist auch ein Abenteuerroman, ein Krimi, die Geschichte einer ausgewachsenen Depression, eine Auseinandersetzung mit dem Tod, eine Biografie des Lesens, Literatur in der Literatur.

Am 4. August hat „Abschlussball“ Freiburg-Premiere: Beim Auftakt der vom Vorderhaus veranstalteten Reihe „Unter Sternen“ in der Spechtpassage trägt Jochimsen ausgewählte Passagen vor, in denen es sicher nicht nur um Friedhöfe geht.

Text: Erika Weisser / Foto: © Britt Schilling

Abschlussball
von Jess Jochimsen
Deutscher Taschenbuchverlag 2017
310 Seiten, gebunden
Preis: 20 Euro