»Für Betroffene eine Katastrophe«: Menschen mit psychischen Krankheiten leiden besonders unter den Corona-Maßnahmen STADTGEPLAUDER | 20.02.2022 | Philip Thomas und Pascal Lienhard

Junge Frau in Kapuzenjacke im Wald

Die Corona-Krise geht an niemandem spurlos vorbei. Besonders hart getroffen sind Menschen, die schon vor der Pandemie unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen gelitten haben. Durch die Maßnahmen gegen das Virus habe sich die Situation noch einmal verschlechtert, sagen Experten und Betroffene. Und auch die Freiburger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter schlägt Alarm: Patienten warten dort aktuell neun Monate auf einen Therapieplatz.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie litt Lisa Kleber (Name von der Redaktion geändert) unter einer chronischen Depression und Sozialphobie. Dass „etwas nicht stimmte“, spürte die heute 32-Jährige erstmals während ihres Biologiestudiums. Selbst kurze Referate bedeuteten für die junge Frau panische Angstzustände. Früher habe sie solche Furcht nicht gehabt: „In meiner Kindheit habe ich Theater gespielt. Ich hatte nie ein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen“, berichtet Kleber bei einem Spaziergang durch ein abgelegenes Freiburger Waldstück.

Wie genau eine Depression entsteht, ist nicht abschließend geklärt. Ein wesentlicher Faktor ist laut Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, neben äußeren Faktoren wie Stress oder Traumata vor allem genetische Veranlagung. Der Professor mahnt, die Krankheit nicht zu unterschätzen: „Eine Depression ist eine wirklich schwere Erkrankung und keine Befindlichkeitsstörung.“ Ratschläge à la „Reiß dich zusammen“ oder „Iss doch mal Schokolade“ helfen Betroffenen nicht.

Und betroffen sind immer mehr. Laut der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) ist die Zahl der Patienten, bei denen Depressionen wiederkehren, bundesweit von 2010 bis 2020 um rund 82 Prozent gestiegen. Bei einmaligen depressiven Phasen verzeichnet die KKH im selben Zeitraum ein Plus von knapp 25 Prozent. In Deutschland erhält mittlerweile jeder Siebte eine dieser oder beide Diagnosen. In Baden-Württemberg und Berlin ist es sogar jeder Sechste. Den größten Anstieg bei wiederkehrenden Depressionen verzeichnete die Krankenkasse mit 140 Prozent ebenfalls in Baden-Württemberg.

Bald wurde Klebers Beklemmung größer. „Ich hatte Angst, dass Menschen in meinem Umkreis oder mir irgendetwas zustößt“, berichtet sie. Die Diagnose Stirnhöhlenentzündung kam für Kleber einem Todesurteil gleich. Tagelang habe sie ihr Bett nicht verlassen können, wollte keinen Ton von sich geben, aus Angst, von Nachbarn als faul abgestempelt zu werden. „Betroffene erkennen sich selbst nicht wieder, haben Schuldgefühle und leiden unter Erschöpfung, Freudlosigkeit oder permanenter innerer Anspannung. Hinzu kommen noch Appetit- und Schlafstörungen. Viele entwickeln Suizidgedanken. Der Leidensdruck ist hoch“, erklärt Hegerl.

Je früher die Behandlung beginnt, umso besser sind Depressionen heilbar. Bei Kleber dauerte es Monate, bis sie begriff, dass sie Hilfe brauchte. „Ich dachte lange, dass es vielen Menschen wesentlich schlechter geht als mir.“ Unterstützt von ihrer Mitbewohnerin kontaktierte sie schließlich einen Arzt und ergatterte im Frühjahr 2020 einen Platz in der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach. Nach sechswöchiger Behandlung machten jedoch die Maßnahmen gegen das Coronavirus ihrer Genesung einen Strich durch die Rechnung.

Ulrich Hegerl

Professor Ulrich Hegerl: „Eine Depression ist keine Befindlichkeitsstörung“

Im folgenden Lockdown gelang es Kleber nicht, ins Leben zurückzufinden. Die Angst, Mitmenschen zu infizieren, trieb Kleber in strenge Selbstisolation. Dinge, die ihr vor der Pandemie noch Freude bereitet hatten, Freunde treffen, das Lieblingscafé besuchen, ins Kino gehen, fielen weg. Schließlich habe sie keinen Sinn mehr darin gesehen, aufzustehen oder die Wohnung zu verlassen. „Ich war hoffnungslos, antriebslos und meiner Gedankenwelt ausgeliefert“, erklärt sie.

So wie Kleber ging es vielen. In einer Sondererhebung der Deutschen Depressionshilfe berichtet fast die Hälfte (44 Prozent) der mehr als 5100 Befragten mit diagnostizierter Depression, dass sich ihr Krankheitsbild im zweiten Lockdown bis hin zu Suizidversuchen verschlechtert habe. „Die Maßnahmen gegen das Coronavirus sind für Betroffene eine Katastrophe“, sagt Hegerl.

„Wie viel leid und Tod verursachen wir?“

Mit einer Selbsthilfegruppe durfte sich Kleber nicht mehr treffen, in ihrer hellhörigen Wohnung seien Telefonate mit ihrer Therapeutin nicht infrage gekommen. Die Nebenwirkungen der Corona-Schutzmaßnahmen seien laut Hegerl für Menschen mit depressiven Störungen enorm: „Die Frage ist, wie viel Leid und Tod können wir verhindern, und wie viel Leid und Tod verursachen wir?“

Nach einem Jahr Pandemie und mit ärztlicher Hilfe habe Kleber es geschafft, aus dem Haus zu kommen, in die Natur zu gehen und Freunde zu treffen. Noch heute hat sie mit der Krankheit zu kämpfen. Dank Therapie und Psychopharmaka gehe es ihr aber besser als noch vor zwei Jahren. Ihre akademischen Ambitionen musste sie allerdings aufgeben. „Ich war eine sehr gute Schülerin und Studentin“, blickt Kleber zurück. Aus Leistungsdruck sei schließlich Existenzangst geworden: „Eine Abwärtsspirale wurde in Gang gesetzt, aus der ich erst jetzt wieder herauskrieche.“

Auch an den Jüngsten sind zwei Jahre Pandemie nicht spurlos vorbeigegangen. Vom Coronavirus selbst zwar statistisch verschont, sind es vor allem die Maßnahmen gegen den Erreger, die an Kindern und Jugendlichen zehren: Bereits ein knappes Jahr nach dem ersten Ansteckungsfall zeigte jedes dritte Kind in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Zu diesem Ergebnis kam die „Copsy“-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) mit mehr als 1000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 7 bis 17 Jahren. 

Langzeitstudien fehlen noch. Christian Fleischhaker, Kommissarischer Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter am Uniklinikum Freiburg, geht jedoch davon aus, dass die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung für junge Menschen bereits jetzt „signifikant“ sind. Sogenannte Entwicklungsaufgaben seien nicht erfüllbar: Etwa die soziale sowie Autonomieentwicklung von den Eltern habe kaum stattfinden können. „Um alle Maßnahmen einzuhalten, hätten sich Kinder in einen Winterschlaf versetzen müssen“, so der Arzt.

Auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie rolle eine Welle zu. „Die Fälle werden noch zwei Jahre anfluten – selbst wenn die Pandemie morgen vorbei wäre“, schätzt der 57-Jährige. Die Freiburger Klinik sei dafür nicht gewappnet. Mindestens 50 Betten und viel mehr Tagesplätze brauche es laut Fleischhaker für das gesamte Einzugsgebiet des Klinikums mit rund 650.000 Einwohnern. Derzeit können von 31 stationären Plätzen in der Freiburger Klinik 27 betrieben werden. Neun Monate müssen Patienten bereits jetzt auf einen Behandlungsplatz an der Hauptstraße warten. Fleischhaker: „Das ist ein Armutszeugnis.“

Info:

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Telefon-Seelsorge: 0800 1110111
Hilfsangebote gegen Depressionen in Freiburg via Freiburger Bündnis gegen Depression. Im Internet unter fbgd.org oder Tel.: 0761 1521 956 30. Diagnostisches Erstgespräch unter bit.ly/chilli_erstgespräch

Fotos: © pixabay, Katrin Lorenz