Ulrich von Kirchbach über Corona, Kultur und Überlebenskämpfe STADTGEPLAUDER | 20.12.2020 | Lars Bargmann

Ulrich von Kirchbach Kulturbürgermeister als Krisenmanager: Für Ulrich von Kirchbach ist nicht nur die erneute Schließung von Museen „rational nicht erklärbar“.

Das Jahr 2020 war – neben dem Flüchtlingsjahr 2015 – das herausforderndste in den 18 Jahren, die Ulrich von Kirchbach in Freiburg Kultur- und Sozialbürgermeister ist. Im Gespräch mit chilli-Chefredakteur Lars Bargmann spricht der zweifache Familienvater über tiefe Wunden und harte Treffer, Hoffnungsschimmer und Rettungsschirme – und klare Forderungen an die Politik in Berlin und Stuttgart.

chilli: Herr von Kirchbach, Sie haben Ende Oktober nach Verkündung des zweiten Lockdowns als Vorsitzender des Landesverbands des Deutschen Bühnenvereins an Ministerpräsident Winfried Kretschmann geschrieben, dass Theater- und Konzertsäle sichere Orte waren und gefordert, schnell wieder Regelungen mit einer Publikumsbeschränkung von 500 Personen oder 25 Prozent der Platzkapazität zu erlauben. Was hat er geantwortet?

von Kirchbach: Wie üblich dauert es im Staatsministerium mehrere Wochen, bis man eine Antwort bekommt. Viele kritisierten, dass gerade Museen und Theater, auch Gastronomie und Hotels, in denen professionelle Hygienekonzepte erarbeitet wurden, in den zweiten Lockdown geschickt wurden. Das waren doch sichere Orte. Das weiß man auch in Stuttgart. Gerade die Schließung von Museen ist rational nicht erklärbar, wenn auf der anderen Seite die Menschen in Straßenbahnen dicht an dicht stehen. Es braucht jetzt schnell einen Strategiewechsel, einen klaren Stufen-
plan, wann was wieder möglich ist. Zum Beispiel, dass Museen zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder öffnen dürfen und dann zeitgleich oder kurze Zeit später die Theater. Natürlich unter der Prämisse, dass dann die Fallzahlen stimmen. Ich denke, dass eine Inzidenz um die 50 dafür ausreichend wäre.

chilli: Welche Rolle spielt für Freiburg dabei das Impfzentrum an der Messe?

von Kirchbach: Das ist psychologisch wichtig, ein Zeichen der Hoffnung. Bis Mitte des Jahres sind voraussichtlich alle geimpft, die geimpft werden wollen. Vielleicht werden wir Herdenimmunität erreichen, auf jeden Fall aber werden die Zahlen massiv nach unten gehen. Und dann feiern wir das Ende der Pandemie und auch den Höhepunkt des Stadtjubiläums mit dem Festwochenende.

chilli: Wie tief sind die Wunden, dass ausgerechnet im Jubeljahr Corona kam?

von Kirchbach: Das ist schon bitter. Das Jahr hatte hervorragend angefangen, bei der Nacht der Narren Ende Februar waren noch 10.000 Leute auf dem Münsterplatz. Das kann man heute kaum glauben. Dann war’s plötzlich aus mit großen Veranstaltungen. Doch wir wollten das Jubiläum nicht sang- und klanglos beenden. Der Gemeinderat hat dann beschlossen, es bis Mitte 2021 fortzuführen. Und ich bin überzeugt, dass wir noch einiges realisieren können.

chilli: 2020 war vor allem für die vielen Menschen aus der Kultur eine existenzielle Bedrohung. Was hat die Kulturverwaltung bisher getan, um die Einrichtungen, Institutionen und Kulturschaffenden im Überlebenskampf zu unterstützen?

von Kirchbach: Das war in der Tat sehr hart für alle – die Verordnungen stellten für viele faktisch ein Berufsverbot dar. Ich bin selber als Vorsitzender der Alemannischen Bühne unmittelbar tangiert. Wir bekommen keinerlei Zuschüsse, uns hat das sehr hart getroffen. Ohne Rücklagen hätten wir vielleicht sogar zum Insolvenzgericht gehen müssen. Ich habe viele schwierige Situationen und Gespräche erlebt, mit Personalräten wegen der Kurzarbeit, aber auch mit Leuten, die emotional am Ende waren. Es gab zwar gewisse Erleichterungen nach dem SGB II (Sozialgesetzbuch, d. Red.) als ultima ratio, um finanziell über die Runden zu kommen, aber psychologisch ist das für viele fatal. Deshalb haben wir versucht, mit verschiedenen Programmen …

Psychologisch fatal

chilli: … etwa?

von Kirchbach: Wir haben beispielsweise 30 Konzerte im Basler Hof ermöglicht, das Programm vom Kommunalen Kino auf der Mensawiese mit Lesungen und Filmen lief über mehrere Monate, auch die Asphalt-Sessions auf dem Parkplatz des E-Werks haben wir gefördert.

chilli: Mit Geld?

von Kirchbach: Wir haben sowohl ideell als auch finanziell unterstützt.

chilli: Bund und Länder haben Milliarden in die Krise gepumpt, das Freiburger Rathaus?

von Kirchbach: Wir haben uns mit circa 800.000 Euro beteiligt. Es gab 100.000 Euro Sonderzuschüsse für Musikstätten, in denen live gespielt wird, 100.000 Euro Mieterlass für städtische Häuser, viele Projektförderungen, auch falls deren Aufführungen dann nicht realisiert werden konnten. Wir haben unser Ermessen im Kulturdezernat voll ausgeschöpft. Ich bin meinen Bürgermeisterkollegen und dem Gemeinderat dankbar, dass sie da mitziehen.

chilli: Gibt es da wie bei den Bundes- und Landesprogrammen auch Trittbrettfahrer?

von Kirchbach: Wir schauen da sehr genau hin. Steuergeld sollen die bekommen, die es wirklich brauchen. Bei allen Programmen gibt es vereinzelt Mitnahmeeffekte.

chilli: Wie entscheiden Sie?

von Kirchbach: Wir entscheiden nach vielen Gesichtspunkten, einer ist, dass bestimmte, fürs kulturelle Leben wichtige Einrichtungen ohne schnelle Hilfen im nächsten Jahr vielleicht gar nicht mehr existieren. Immer wenn die eigenen Einnahmen die bisherigen Zuschüsse übertreffen, der Lockdown also besondere Wunden reißt, müssen wir eingreifen. Deswegen werden wir das ensemble recherche, das Barockorchester, das Jazzhaus, den Verein Jugend pro Arte und die Albert-Konzerte mit insgesamt 435.000 Euro fördern. Das Land kann also sehen, dass die Stadt tatkräftig unterstützt.

chilli: Das neu gegründete Kultur-Bündnis Freiburg hat Mitte November bei einer Kundgebung eine ganze Reihe von Forderungen aufgestellt: Etwa das Schaffen einer Stelle für einen Nachtbürgermeister zum Wiederaufbau der Nachtkultur.

von Kirchbach: Man sollte die Bezeichnung Bürgermeister nicht verwässern. Ich kann mir eher einen oder eine Nacht-
managerin vorstellen, jemand, der sich kümmert. Dieser Ball liegt nun auf dem politischen Spielfeld, aber Aktionismus bringt wenig. Die Kultur muss neben der Unterhaltung auch noch etwas Sinnstiftendes enthalten, ansonsten wird sie beliebig. Wenn man den Kulturbegriff zu weit fasst, kann die provokante Frage gestellt werden, ob ein Stripteaselokal Kultur ist?

chilli: Zumindest keine förderungswürdige. Die Stadtspitze möge private Vermieter von Probe- und Spielstätten auffordern, auf Teile von Mieten zu verzichten.

von Kirchbach: Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, Briefe an private Vermieter zu schreiben. Diese könnten auch kontraproduktiv sein.

chilli: Das Rathaus soll ein Förderprogramm zur Übernahme von Proberaummieten für in Notlage geratene Musikschaffende starten.

von Kirchbach: Wir investieren gerade 1,1 Millionen in 16 neue Proberäume an der Karlsruher Straße …

Ulrich von Kirchbach und Lars Bargmann

Dezernent zur Debatte: „Ich will gar nicht, dass Kultur systemrelevant ist.“

chilli: … das ist das Trostpflaster fürs gescheiterte Musikhaus auf dem Güterbahnhof …

von Kirchbach: Dieses Projekt ist kein Trostpflaster, sondern schlichtweg sensationell in Zeiten wie diesen. Die Musikzentrale ist aus verschiedenen Gründen gescheitert, das war überfrachtet. Diese 1,1 Millionen Euro hätten im neuen Doppelhaushalt sicher nicht mehr das Tageslicht erblickt. Unter normalen Umständen hätten Sie vielleicht recht, aber nach 30 Stunden Haushaltsklausuren, in denen der Oberbürgermeister und alle Dezernenten gekämpft haben, in denen die Nerven sehr angespannt waren, in denen jeder zurückstecken musste, in denen zunächst 100 Millionen Euro fehlten, in diesem Licht bekommt diese Investition eine ganz andere Bedeutung.

chilli: Das Kulturbündnis fordert einen Spielstättenrettungsfonds, die Stadt soll aktiv neue Nachtclubs fördern, freiwerdende Ladengeschäfte „mit kulturellem Potenzial“ selber anmieten.

von Kirchbach: Man kann alles fordern. Aber wir haben über das, was wir an Rettungsschirmen jetzt schon aufgespannt haben, nichts Weiteres geplant. Der Haushalt ist auf Kante genäht, genehmigungsfähig und fordert viele einschneidende Entscheidungen. Kulturelle Zwischennutzungen in leerstehenden Flächen zu organisieren, kann ein verfolgenswerter Ansatz sein.

chilli: Auch JUPI fordert in einem Stadtvisionen-Papier, dass die Clublandschaft stärker gefördert werden soll. Mit einem Gründertopf sollen junge Unternehmer ermutigt werden, neue Locations zu eröffnen. Dafür soll die Verwaltung die Sanierung des Kleinen Hauses im Theater schieben …

von Kirchbach: Damit profiliert sich JUPI und das ist auch in Ordnung. Aber die sogenannte klassische oder Hochkultur gegen eine andere Kultur auszuspielen, ist der falsche Weg.

chilli: Warum sind Sie Schirmherr der neuen Aktion Kulturgesichter0761?

von Kirchbach: Weil ich die Idee sehr pfiffig finde. Durch die Plakate wird Kultur sichtbar, aber auch die Menschen dahinter. Es geht auch um deren wirtschaftliche Existenz, und das muss man mal zeigen.

chilli: Was machen Sie konkret?

von Kirchbach: Wir stellen unter anderem 10 Tage lang 200 Plakatwände unentgeltlich zur Verfügung.

Ulrich von Kirchbach

Ulrich von Kirchbach

chilli: Die privat gestartete Aktion United we Stream Upper Rhine, die auch vom chilli unterstützt wurde, hat in fünf Monaten mit 28 Streams 18.600 Euro für 140 Künstler eingespielt. 132 Euro für jeden. Wie bewerten Sie das Streamen?

von Kirchbach: Das hatte in der Not seine Berechtigung, aber die Menschen lechzen nach Liveerlebnissen. Als die Theater wieder offen waren, war jede Veranstaltung sofort ausverkauft. Wie gesagt, wir brauchen jetzt einen Stufenplan. Warum sollten die Museen nicht wieder öffnen?

chilli: Auf 60 Millionen Euro war die Sanierung des Augustinermuseums taxiert, am Ende werden es fast 90 sein. Ist das Museum die Elbphilharmonie zu Freiburg?

von Kirchbach: Mitnichten. Die ist mindestens zehn Mal so teuer geworden. Das Augustinermuseum ist nach dem Münster das zweitwichtigste denk-
malgeschützte Gebäude. Für den Unterhalt sind wir ohnehin zuständig. Bei allem Ärgernis, für ein Museum mit diesem Rang lohnt sich das.

chilli: Gab es in diesem denkwürdigen Jahr auch Lichtblicke?

von Kirchbach: Es gab viele Veranstaltungen, die mich berührt haben. Die Solidarität am Anfang war groß, man und frau standen zusammen. Und die Digitalisierung, etwa bei den Schulen, hat einen Schub bekommen.

chilli: Unser Kolumnist Florian Schroeder hat unlängst den Deutschen Kleinkunstpreis bekommen, nicht zuletzt, weil er gezeigt habe, dass Kultur systemrelevant ist. Ist sie das?

von Kirchbach: Ich will gar nicht, dass Kultur systemrelevant ist. Kultur ist da, um Unruhe ins System zu bringen. Kultur ist sinnstiftend und demokratie-relevant.

chilli: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fotos: © Julia Rumbach