„Opfer wurden heroisiert“ – ZPKM veröffentlicht 14.000 Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg STADTGEPLAUDER | 30.12.2024 | Philip Thomas

Viele Deutsche begrüßten den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Zeugnis dieser Euphorie ist eine vom Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) veröffentlichte Sammlung von knapp 14.000 Gedichten, die den Kampf verklären und das Ausland verunglimpfen. Kriegskritische Stimmen kommen praktisch nicht vor. Der Direktor des ZPKM, Michael Fischer, sieht Parallelen zur Gegenwart.
Im Archiv des ZPKM der Universität Freiburg stapeln sich Kartons. Regale und Schubladen säumen die Gänge. Aus einer Stellage entnimmt Michael Fischer eine karteikastengroße Schachtel. Heraus zieht der Geschäftsführende Direktor des ZPKM mehrfach gefaltete, ein wenig vergilbte, aber gut erhaltene Zeitungsauschnitte, auf denen – gut leserlich – Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg gedruckt sind.
Insgesamt 14.000 zwischen 1914 und 1918 entstandene Kriegsgedichte hat das ZPKM digitalisieren lassen und online abrufbar gemacht. Zusammengetragen wurden die überwiegend in Frakturschrift gedruckten Verse ursprünglich vom Gründer des Deutschen Volksliedarchivs John Meier, der 1953 in Freiburg gestorben ist. „Meier war vom Kriegsverlauf unbeeindruckt, bis zum Ende hat er die Gedichte gesammelt. Die Idee war damals, quasi live nachzuverfolgen, wie aus Gedichten Volkslieder entstehen“, erklärt Fischer.
Ursprünglich war diese Kriegslyrik ein einprägsames und zugängliches Medium der deutsch-nationalen Mobilisierung und ein Mittel zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen sowie kollektiven Sinnstiftung. Heute „sind diese Zeugnisse des Patriotismus, Nationalismus und Militarismus in Deutschland zentrale Dokumente für die interdisziplinäre Erforschung des Ersten Weltkriegs“, betont der Professor.
Verfasst wurden die hauptsächlich in Tageszeitungen veröffentlichten – und damit informell zensierten Verse – von Gelehrten und professionellen Autoren, aber auch von Laien, insbesondere von Soldaten.
Den Schrecken des modernen Krieges, der rund zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten das Leben kostete, sprechen die Gedichte kaum an. Vielmehr werden Tod und Leid der Materialschlachten romantisiert und als ehrenhaft dargestellt. „Einsamkeit, Gewalt und Langeweile werden heroisiert“, erläutert der Experte.
Auch nach strategisch ergebnislosen Gefechten wie der blutigen Schlacht um Verdun im Jahr 1916 oder Wendepunkten wie dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg 1917 nimmt die Euphorie in den deutschen Versen nicht ab. „Es gibt keinen Knick. Bis zum Schluss wurden kriegsaffirmative Texte veröffentlicht, selbst als es der Bevölkerung an Nahrung und Heizmitteln mangelte“, sagt Fischer.
Auch Autorinnen sind in der Sammlung vertreten: „Mütter betrauern darin zwar ihre Söhne, aber sie stellen sich als Opfer dar. Kriegskritische Töne finden sich auch hier nicht, die Opfer wurden sakralisiert und heroisiert.“
Von der Brutalität und Entmenschlichung ist Fischer immer wieder erschüttert. „Der Krieg ist der Vater der Lüge. Man sieht in diesen Gedichten, wie Kriegspropaganda funktioniert, Religion missbraucht und Leid funktionalisiert wird“, sagt er. „Man soll keine Parallelen zur Gegenwart ziehen, aber der Vergleich zum russischen Angriffskrieg drängt sich einem doch auf.“

„Man sieht in den Gedichten, wie Kriegspropaganda funktioniert, Religion missbraucht und Leid funktionalisiert wird“: ZPKM-Direktor Michael Fischer
Zur Sammlung: bit.ly/ZPKM