Film-Tipp: Was man von hier aus sehen kann 4Film | 27.12.2022 | Erika Weisser

Filmausschnitt: Was man von hier aus sehen kann

In dem winzigen Ort im Westerwald geht es hin und wieder recht spukhaft zu. Seit Jahren schon. Und schon längst wundern sich die wenigen, wie von unsichtbaren Banden zusammengehaltenen Dorfbewohner nicht mehr, wenn plötzlich Dachbalken, Deckenlampen oder Ladenschilder auf den Boden stürzen. Denn schon längst wissen sie, dass dann Luise in der Nähe ist. Und dass die hochsensible junge Frau, die schon als Kind die Menschen und ihre wohlbehüteten Geheimnisse schneller durchschaute als andere, gerade mal wieder das Gegenteil von dem sagt, was sie denkt oder fühlt. Dass sie so tut, als erkenne sie die allenthalben aufgetischten großen und kleinen Alltags- und Liebeslügen nicht.

Die Leute im Dorf haben sich auch schon längst an die besonderen Talente von Luises Großmutter Selma gewöhnt. Allerdings nehmen sie diese nicht so gelassen hin wie die destruktive Energie der Schwindeleien ihrer Enkelin. Denn Selma kann den Tod voraussehen: Immer dann, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt innerhalb von 24 Stunden ein Mensch. Wobei unklar ist, wen es treffen wird.

Hatte die aus ziemlich skurrilen Leuten zusammengesetzte Dorfgemeinschaft beim ersten Fall – es handelte sich um den Ehemann der damals ganz jungen Mutter Selma – noch keinen Zusammenhang zwischen Traum und Tod gesehen, so herrscht inzwischen kein Zweifel mehr daran.

Deshalb verbreitet sich die Kunde von jedem neuen Okapi-Traum stets wie ein Lauffeuer im ganzen Ort. Und da keiner weiß, wer dieses Mal an der Reihe ist, geraten alle in Aufruhr. Alle machen sich bereit, Abschied von Freund oder Feind zu nehmen, jemandem doch noch seine Liebe zu gestehen, zu verzeihen oder um Verzeihung zu bitten, aufgeschobene Dinge zu erledigen, letzte Vorbereitungen zu treffen, zu sagen, was man immer schon sagen wollte. Und alle – bis auf eben die eine oder den einen – revidieren tags darauf ihre vorschnellen Gefühlsäußerungen, verlangen vom Postboten die Herausgabe der voreilig in den Briefkasten geworfenen Liebes- oder Schulderklärungen, kehren beruhigt in ihren Alltag zurück.

Es sind nur wenige, die sich nicht an dem Wettlauf mit dem Tod beteiligen: Die ewig schlecht gelaunte Marlies, die sich nichts sehnlicher wünscht als das Ende. Der extrem religiöse Palm, dessen Sohn Martin – Luises bester Kinderfreund – vor vielen Jahren Opfer eines Okapi-Traums war. Die reichlich transzendente Elsbeth, die in ihrem Hotel mit Vorliebe buddhistische Mönche beherbergt. Der Optiker, der Selma seit jeher heimlich liebt und, obwohl er sehr an dieser Liebe leidet, ihr bester Freund ist. Und natürlich auch Luise – und Selma selbst. Sie fürchtet den Tod nicht, und als er zu ihr kommt, trifft er sie in einer der schönsten Szenen dieser gelungenen filmischen Umsetzung des 2017 erschienenen Romans und Überraschungserfolgs von Mariana Leky.

Filmcover: Was man von hier aus sehen kann

Was man von hier aus sehen kann
Deutschland 2022
Regie: Aron Lehmann
Mit: Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics, Benjamin Radjaipour, Rosalie Thomass u. a
Verleih: Studiocanal
Laufzeit: 106 Minuten
Start: 29. Dezember 2022

Foto: © Studiocanal