Der Tod ist Teil des Alltags – Was die Spanische Grippe in Freiburg anrichtete Gesundheit | 18.05.2021 | Christian Engel

Familie Bartenstein aus Freiburg Gemeinsam durch die Krise: Familie Bartenstein aus Freiburg

„Überall geht Jammer und Tod weiter. Dr. Locherer haben innerhalb 14 Tagen beide Söhne verloren, der zweite ist erst kurze Zeit draußen gewesen. Die Grippe soll wieder erneut um sich greifen. Frau Stuber erzählte heute, die Ärzte wüssten sich bald nicht mehr zu helfen, innerhalb 4 St seien manche Soldaten gesund und tot! Und neuerdings gäbe es so viele Fälle mit Krämpfen und Melancholie, weniger Lungenentzündungen.“

Es ist der 26. Oktober 1918, als Martha Bartenstein diesen Brief an ihren Mann schreibt. Sie ist damals 37 Jahre alt, mit ihren beiden Kindern Hans und Gretel daheim in Freiburg, während ihr Mann, der Jurist Karl Bartenstein, im Ersten Weltkrieg an der Front kämpft. Das Ehepaar hat sich versprochen, während Karls Kriegs­einsätzen täglich zu schreiben. In dem Briefwechsel (Martha verfasst rund 1100 Briefe an ihren Mann) kommen nicht nur die Erlebnisse des Krieges zur Sprache, die Entwicklung der Kinder, Momente des Alltags – es geht auch um die Spanische Grippe.

Die Pandemie brach 1918 aus. In der gängigsten Version der Geschichtsschreibung kam das Virus H1N1 mit Soldatentruppen rüber nach Europa, wo es sich in drei oder vier Wellen ausbreitete – häufig in Lazaretten. 20 bis 50 Millionen Menschen sollen weltweit daran gestorben sein, vielleicht auch 100 Millionen. Die Schätzungen zur Zahl der Infizierten reichen bis zu 500 Millionen. In Freiburg sprechen Historiker von 444 Toten – aber auch das ist nur eine Behauptung. Denn viele Punkte der Spanischen Grippe sind noch ungeklärt, zumindest unklar. Das liegt schlicht daran, dass die Quellenlage äußerst überschaubar ist.

Briefe wie die von Martha Bartenstein sind eine Seltenheit. Im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen finden sich nur wenige weitere Schriften, in denen die Pandemie thematisiert wird. Ein Vizefeldwebel an der Westfront schreibt darüber, eine Hausfrau aus dem Ruhrgebiet, ein Schiffsbaumeister aus Königsberg, eine 23-Jährige aus Ostpreußen. Und eben die Bartensteins.

Auch in Memoiren von Zeitungsverlegern oder hohen Militärs, zu denen Historiker häufig greifen, um sich ein Bild von jener Zeit zu machen, findet sich kaum etwas zur Spanischen Grippe, wie der Neuzeithistoriker Eckard Michels sagt.

Die Presse versuchte, die Pandemie runterzuspielen

Das liegt laut Michels, der sich wie kaum ein anderer in Deutschland mit dem Thema befasst hat, daran, dass die Menschen zu jener Zeit ein anderes Gesprächsthema hatten: den Ersten Weltkrieg. In den Städten Leid und Elend, Kranke und Verletzte. Kaum eine Familie, die nicht ein Kriegsopfer zu betrauern hatte. Die Menschen waren damals tagtäglich mit Massensterben konfrontiert: gefallene Soldaten, Hungertote wegen alliierter Blockaden, Opfer der grassierenden Grippe und anderer Krankheiten. „Der Tod war Teil des Alltags“, sagt Eckard Michels. „Statt zu klagen, herrschte aber eher ein Durchhaltekonsens.“

Und die Medien schwiegen auch lieber – oder mussten schweigen. „Die Presse versuchte die Pandemie runterzuspielen“, sagt etwa John Eicher, der derzeit am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) forscht und sich mit dem Thema auseinandersetzt. „Stichwort Zensur: Man wollte die Menschen nicht demoralisieren.“

„Ob es nicht doch eine schwere Seuche ist, die wir haben? Im Felde sollen auch so viele dran sterben, wie kann man sich dagegen wehren? “

Martha Bartenstein stellt sich diese Fragen im November 1918, als die zweite Grippewelle über Freiburg hereinbricht. Die Verunsicherung ist groß, wie man mit dieser Krankheit umzugehen hat. In der ersten Welle, die im Frühjahr in die Stadt – man muss sagen – geplätschert ist, sind die Infektionszahlen gering gewesen, die Patienten in der Regel nach zwei, drei Wochen wieder genesen. Die zweite Welle aber, die hat es in sich.

Ende September 1918 sei die Grippe in viel übertragbarer und virulenterer Form zurückgekehrt, sagt Roger Chickering. Was Michels für die Forschung der Spanischen Grippe in Deutschland, ist Chickering für jene in Freiburg. Der US-Amerikaner, lange Jahre Professor für Geschichte in Washington und Oregon, hat hierzustadte über den Ersten Weltkrieg geforscht, darüber ein Buch geschrieben. Bei der Recherche stieß er auf die Spanische Grippe. Mitte Oktober 1918, berichtet er, habe die Grippe in Freiburg ihren Höhepunkt erlebt: „Die Symptome der Krankheit entwickelten sich häufig rasch, in manchen Fällen sogar in wenigen Stunden.“ Viele bekommen Lungenentzündungen, die von Soldaten bereits überfüllten Lazarette und Krankenhäuser können nur die schlimmsten Fälle aufnehmen, mehr als die Hälfte der Patienten stirbt. Das Gesundheitssystem der Stadt Freiburg kollabiert.

Ehepaar Bartenstein

Stets verbunden: Das Ehepaar Bartenstein schickte sich regelmäßig Briefe zwischen Front und Freiburg

444 Freiburgerinnen und Freiburger sind an der Pandemie gestorben. Das sagt nicht Roger Chickering, sondern Oskar Haffner, ein badischer Volkskundler, der in seiner Kriegschronik auch die Spanische Grippe behandelt. Chickering hat seine Zweifel an der Zahl, er hält sie für eine „große Unterschätzung“. Denn unklar bleibt, ob sie etwa die an der Krankheit gestorbenen Soldaten enthält oder die Verstorbenen der dritten Krankheitswelle, die sich noch einmal im ersten Viertel des Jahres 1919 aufbäumt. Die Sterberate in Freiburg liegt jedenfalls deutlich höher als im gesamten Land. Das bestätigt auch Michels. In Städten wie Marburg, Essen oder Freiburg hätten sich die Sterbefälle durch Lungenentzündungen im Vergleich zu Vorjahren bisweilen vervierfacht. Weshalb es diese Städte im Vergleich zu anderen besonders schwer erwischt, kann er sich nicht erklären: „Da tappen wir im Dunkeln. Das erleben wir in der aktuellen Corona-Pandemie ja auch, dass manche Landkreise oder Städte unerklärlich höhere Infektionszahlen als andere haben.“

„Täglich sterben noch so viele Menschen und die Schule wird wohl noch weiter geschlossen bleiben!“

Aus den Briefen von Martha Bartenstein geht hervor, dass ihre Kinder mal zur Schule können, mal daheim bleiben müssen. „Maßnahmen gegen die Pandemie wurden den Kommunen überlassen“, sagt Michels. In Freiburg entscheiden sich das Garnisonskommando, das städtische Gesundheitsamt und das staatliche Bezirksamt für eine Art „Social Distancing“, wie Chickering berichtet. Nachdem sie versucht haben, Schließungen so lange wie möglich abzuwenden – wegen der bereits angeknacksten Moral der Bevölkerung –, müssen Schulen, Gaststätten, die Universität, Läden und Fabriken (zeitweise) zumachen, später auch das Stadttheater und die Kinos. „Das Münster und die anderen Kirchen blieben dagegen offen“, sagt Chickering.

So befinden sich die meisten Freiburgerinnen und Freiburger außerhalb der Arbeitszeit meist in den eigenen vier Wänden, wo sie sich gegen die Krankheit wappnen oder sie, sofern es sie erwischt haben sollte, auskurieren. Auch damals schon galt so etwas wie AHA-Regeln, obwohl diese eher Ratschläge sind: wenig Kontakte, körperlich schonen, Hände waschen, Rote Bete essen, Kamillentee trinken. Oder wie Martha Bartenstein in einem Brief an ihren Gatten Karl schreibt:

„Bekommt ihr auch Alkohol gegen die Grippe? Das sollte fast das einzige Mittel der Ärzte sein. Ich werde nun auch eine Flasche Rotwein holen. Nun gute Nacht mein Lieb!“

Fotos: © Privatbesitz Familie Bartenstein