„Keine ärztliche Hilfe“: Wie Betroffene unter dem Fatigue-Syndrom leiden – und die Uniklinik kritisieren Gesundheit | 21.12.2023 | Till Neumann

ME/CFS Freiburg "Bett, Sofa, Bett, Sofa": So beschreibt eine Freiburgerin mit ME/CFS ihren Alltag.

Die Kraft ist oft weg, der Alltag wird zur Qual. Menschen, die unter dem Postviralen Fatigue-Syndrom ME/CFS leiden, müssen ihr Leben umstellen. Einige kommen nicht mal mehr aus dem Haus auch in Freiburg. Zwei Betroffene erheben schwere Vorwürfe gegen das Freiburger Uniklinikum. Dort verweist man auf eine umfassende Versorgung der Patient·innen und eine kontroverse Diskussion.

„Bett, Sofa, Bett, Sofa“

„Ich kann nicht einkaufen, nicht putzen, aber ich kann mir meistens Tortellini kochen.“ So fasst Katharina Meier (Name geändert) ihren Zustand zusammen. Die 35-Jährige lebt in Freiburg und ist arbeitsunfähig. Nach einer Covid-Infektion leidet sie heute unter dem Postviralen Fatigue-Syndrom ­ME/­CFS, der wahrscheinlich schwersten Ausprägung des Post-Covid-­Syndroms. Das heißt: Jede körperliche Anstrengung ist zu viel. Aus dem Haus kommt sie nicht mehr. Ihr Alltag? „Bett, Sofa, Bett, Sofa, Bett, Sofa“, antwortet Meier. Ihre Mutter versorgt sie, so gut es geht.

Bis zu einer Corona-Infektion im März 2022 stand Meier voll im Leben. Sie leitete ein Team in der Begleitung Geflüchteter und machte ein Masterstudium zur psychologischen Beraterin. Beides hat sie verloren – und den Glauben an eine ausreichende medizinische Versorgung. „Ich hatte keine Begrifflichkeiten für die Art, wie es mir schlecht ging“, erinnert sie sich an die ersten Monate. Auf einer Geburtstagsfeier sagte ihr jemand: Du hast Post-Covid. Also begann sie zu recherchieren und stolperte über das Postvirale Fatigue-Syndrom ME/CFS. Auf eigenen Wunsch überwies ihre Hausärztin sie an die Post-Covid-Ambulanz in der Neurologie am Uniklinikum – eine weitere Ambulanz gibt es in der Infektiologie.

»Ich war entgeistert«

Was sie dort im Oktober 2022 erleben sollte, gleicht einem Trauma. Das hat sie in einem mehrseitigen Tagebucheintrag festgehalten, der dem chilli vorliegt. Sie schreibt von einem desinteressierten Arzt, der nicht bereit gewesen sei, auf ME/CFS einzugehen und ihr stattdessen einen Fragebogen zu Depressionen gab. Er soll gesagt haben, „er könne zum Thema Fatigue nichts sagen, das läge nicht in der Zuständigkeit der Neurologie“. Eine Behandlung sei ihr nicht angeboten worden. Meier: „Ich war entgeistert, entmutigt, traurig, völlig erschöpft.“ Ihre Beschwerden mit Depressionen in Verbindung zu bringen, findet sie fahrlässig. Bei Depressionen sei körperliche Aktivierung hilfreich. Bei Menschen mit Belastungsintoleranz jedoch gefährlich, da sie die Symptome verschlimmere. „Das ist Körperverletzung“, findet Meier.

Das unterschreibt auch Christine Müller (Name geändert). Die Freiburgerin hat genau wie Meier Covid-Infektionen hinter sich und leidet seitdem an chronischer Erschöpfung. Auch die Mittvierzigerin hat mit der Uniklinik Freiburg schlechte Erfahrungen gemacht. Nach Covid-Infektionen 2020 und 2022 landete sie in einer Sackgasse: „Ich wusste nicht, wie ich mit der Erschöpfung umgehen soll, wollte alles erzwingen.“ Doch ihr Körper spielte nicht mit: „Tagelang konnte ich mich nicht mehr bewegen, von einer Sekunde auf die andere.“

„Nach jeder Behandlung ging es mir schlechter“

Sie wandte sich an die Uniklinik. In der Long-Covid-Ambulanz (Infektiologie) empfahlen ihr Ärzte die Teilnahme an einer Physiotherapie-Studie. „Ja klar, ich mache alles“, sagte sie in ihrer Verzweiflung im Herbst 2022. Doch das Programm entwickelte sich für sie zum Brandbeschleuniger: „Ich war hellauf begeistert, dass ich endlich etwas tun kann, aber dann ging’s rapide bergab.“ Müller machte dabei unter anderem leichtes Krafttraining und fuhr auf dem Ergometer. Der Effekt: „Nach jeder Behandlung ging es mir schlechter.“ Sieben oder acht Termine absolvierte sie bis zum Abbruch: „Am Schluss konnte ich kaum mehr laufen.“

Nach dem „Crash“ blieb sie in ihrer Wohnung, konnte höchstens 50 Meter am Stück gehen. Erst eine Spezialklinik konnte ihr helfen. Dort habe sie verstanden, dass sie an ME/CFS leidet und dass es der beste Weg sei, sich absolut zu schonen. „Es ging rund zweieinhalb Jahre, bis ich verstanden habe, was ich kann und was nicht“, konstatiert Müller. Mittlerweile tastet sie sich Stück für Stück nach vorne und kann zu 50 Prozent in ihrem alten Job als Assistentin arbeiten. Das geht dank viel Homeoffice. Wandern oder tanzen wie früher ist aber weiterhin unmöglich. Nach dem rund 30-minütigen chilli-Interview am späten Mittag sagt sie: „Mehr ist heute nicht mehr möglich.“

„Man muss Betroffene vor Ärzten schützen“

Plakataktion: ME/CFS soll mehr in die Öffentlichkeit rücken – auch in Freiburg.

Sowohl Katharina Meier als auch Christine Müller haben bei Selbsthilfegruppen Rat gefunden. In WhatsApp-Gruppen können sie sich dort mit anderen Betroffenen vernetzen und austauschen. Rund 250 Personen sind beispielsweise in der Gruppe „Politik Forschung Medien ME/CFS-Selbsthilfe Freiburg“. So auch Lydia Fischer (Name geändert). Sie ist schon seit rund 15 Jahren mit dem Thema ME/CFS beschäftigt und hat sich beruflich darauf spezialisiert. Die 46-Jährige sagt: „Man muss Betroffene vor der Uniklinik und Ärzten allgemein schützen.“ Selbst an der Uniklinik würden sich Ärzte weigern, ME/CFS zu diagnostizieren. Sie verordneten teilweise falsche Behandlungen, die die Beschwerden verschlimmerten.

„Die Uniklinik glänzt mehr oder weniger mit Nichtbehandlung und Nichtversorgung der Long-Covid- und ME/CFS-Betroffenen“, sagt Fischer. Die Long-Covid-Ambulanzen dort hätten nicht den nötigen Mut, die Diagnose des Postviralen Fatigue-Syndroms ME/CFS zu stellen. Dabei habe die WHO das Syndrom bereits 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft.

„Die Beschwerden werden ernst genommen“

Laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS (mecfs.de) sind weltweit 17 Millionen Menschen davon betroffen. Die Fallzahlen in Deutschland hat sie vor der Pandemie auf 250.000 geschätzt. Auslöser sind meist virale Infektionen, häufig das Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) oder Influenza-Viren. Im Pandemiejahr 2021 beobachtete die Kassenärztliche Bundesvereinigung einen Anstieg auf fast 500.000 ME/­CFS-Patienten. Zudem ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. „Die genauen Mechanismen der Erkrankung sind bisher noch ungeklärt“, informiert die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS.

Am Universitätsklinikum Freiburg möchte man die Vorwürfe so nicht stehen lassen: „Die Beschwerden der Betroffenen werden ernst genommen und nicht bagatellisiert“, sagt Sprecher Johannes Faber. ME/CFS werde nach international anerkannten Kriterien diagnostiziert. „Allerdings ist es eine Ausschlussdiagnose, die getroffen wird, indem andere Erkrankungen ausgeschlossen werden“, erklärt Faber.

„Patienten werden seit langem umfassend versorgt“

Medizinisch gibt ME/CFS auch dort Rätsel auf: „Aufgrund der unklaren Herkunft ist die Therapie auch am Universitätsklinikum Freiburg bislang symptomatisch und zumeist multimodal“, sagt Faber. Sie laufe oftmals, aber nicht immer, unter Einbeziehung der Psychosomatik. Diese Mitbetreuung ziele in Ermangelung ursächlicher Therapiemöglichkeiten nicht zuletzt auch auf eine verbesserte Krankheitsbewältigung ab. Den Vorwurf, dass Betroffene in der Klinik nicht gut aufgehoben seien, weist er entschieden zurück: „Patienten mit Fatigue-Symptomatik werden regelhaft in den zuständigen Fachbereichen des Universitätsklinikums und interdisziplinär bereits seit langem umfassend versorgt.“

Für Katharina Meier, Christine Müller und Lydia Fischer bleibt die Hoffnung auf medizinische Fortschritte und mehr Aufmerksamkeit für ihre Krankheit. Meier wirft Politik und Wissenschaft vor, die Krankheit unter ideologischen und wirtschaftlichen Aspekten zu betrachten. Ein Teil der Schulmedizin „glaube“ nicht an die Krankheit. Ein anderer versuche, sich wider besseres Wissen durch unpassende und teilweise kontraindizierte Reha-Angebote zu bereichern.

„Für Mediziner bin ich organisch gesund“

Dass das Krankheitsbild vernachlässigt wird, findet Johannes Faber nicht: „Am Universitätsklinikum Freiburg werden in verschiedenen Fachbereichen zahlreiche Studien zu Covid/Long-Covid geleitet.“ Zur Koordination einer standortübergreifenden Forschung sei während der Corona-Pandemie das „Netzwerk Universitätsmedizin“ (NUM) gegründet worden. Faber sagt aber auch: Therapeutische Konzepte zu ME/CFS würden vielerorts „sehr kontrovers diskutiert“. Eine anerkannte Leitlinie dazu gebe es nicht.

Vielleicht auch deswegen sind Betroffene wie Christine Müller auf sich selbst gestellt. Sie steuert ihre Belastung alleine und sagt: „Ich habe keine ärztliche Hilfe. Für die Mediziner bin ich organisch gesund.“ Außer Psychotherapie gebe es kein Angebot bei Fatigue. Sie hofft daher weiter auf ein ärztliches Wunder. Zur Wahrheit gehört wohl auch: Zum Clinch mit Kliniken und dem Gesundheitssystem fehlt vielen Betroffenen die Kraft.

ME/CFS in Freiburg – Initiative, Kurs und Aktionstag

Betroffene von ME/CFS haben sich in Freiburg in der Selbsthilfe und Initiative mecfs-freiburg zusammengeschlossen. Auf der Webseite gibt es Hintergründe zur Krankheit, Erfahrungsberichte Betroffener oder auch Links zu Erklärvideos. Für Betroffene des Postviralen Fatigue-Syndroms bietet eine auf den Umgang mit der Belastungstoleranz spezialisierte Physiotherapeutin den Kurs „Minimal Movement“ an. Er findet donnerstags von 18.15 Uhr bis 19.15 Uhr im Bewegungsraum an der Adlerstraße 12 statt. Ein Einstieg ist jederzeit möglich. Anmeldung und mehr Infos für Betroffene über das Selbsthilfebüro Freiburg, Telefon 0761-2168735 oder per E-Mail an korallmosaik@gmx.de.

Eine Betroffene sammelt zudem Spenden auf whydonate.com für eine ME/CFS-Therapie. Für den 11. Mai 2024 hat die Gruppe anlässlich des Welt-ME/CFS-Tags auf dem Platz der Alten Synagoge eine „Badische ME/CFS-Grosskungebung mit Platzinstallation und LiegendDemo“ geplant.

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