Ein Säckchen mit Steinen: Freiburger Schüler arbeiten zu Deportation Politik | 22.06.2022 | Erika Weisser 

Mahnmal Vergessener Mantel in Freiburg

Antisemitismus, Ausgrenzung und Rassismus. Damit beschäftigen sich aktuell Schüler*innen der 11. Klassen am Walter-Eucken-Gymnasium in Freiburg. Junge Menschen aller Schularten des WEG nehmen in ihrer Freizeit und ohne Benotung an Workshops teil; 18 von ihnen sind in der Nahost-AG. Sie stammen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen; ihre Familien haben oft selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht. Auch Micky Maus spielt bei der Spurensuche eine Rolle.

Genau 14 Schüler*innen sind derzeit in Südfrankreich unterwegs. Doch es ist „keine gewöhnliche Reise“, wie Lea (17) sagt: Sie verbringen dort keine vorgezogenen Pfingstferien. Sie sind auf dem Weg zur Gedenkstätte des früheren NS-Internierungslagers Gurs. Über 6000 Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden im Oktober 1940 in das Lager in den westlichen Pyrenäen zwischen Pau und Bayonne deportiert: jüdische Familien – von Großeltern bis zu kleinen Kindern – und Einzelpersonen. Alle, derer die Behörden damals habhaft werden konnten. 379 Freiburger waren darunter, 116 kamen aus Breisach.

Im Gepäck haben die Schüler*innen außer einem selbst produzierten Film und eigenhändig gestalteten Comics auch ein Säckchen mit Kieselsteinen aus Breisach. Das hat ihnen Christiane Walesch-Schneller mitgegeben, Leiterin der Breisacher Gedenkstätte Blaues Haus: Auf dem Friedhof Cimetière des Deportés sollen sie die Steine auf die Gräber der Menschen legen, die aus Breisach stammten. Dort sind all jene bestattet, die bereits im Camp de Gurs starben. Die anderen wurden 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt und ermordet. Nur wenige haben überlebt, darunter einige Kinder. Mit einer dieser Überlebenden werden die Schüler*innen zusammentreffen.

Altes Schwarz-Weiß Foto von einer Gruppe Kinder

Bis zur Teilnahme an der AG war den Schüler*innen das Lager Gurs nicht bekannt. Sie wussten nichts von der speziellen Variante, die sich südwestdeutsche Nazi-Bürokraten als besondere Schikane für die jüdische Bevölkerung ausgedacht hatten – mit dem Ziel, sie noch vor der Deportation nach Auschwitz aus ihren Gemeinden, ihren Wohnungen zu vertreiben, die dann samt Inventar „arisiert“ wurden: Alles wurde zu symbolischen Preisen an linientreue Volksgemeinschafts-Deutsche verscherbelt.

„Ich habe von anderen Deportationen in andere Konzentrationslager gehört“, sagt die 17-jährige Janine, „aber nichts von dieser speziellen Geschichte.“ Dem Thema, erzählt der 18-jährige Julian, hätten sie sich zunächst bei einem Besuch im Blauen Haus angenähert. Dort ist die vom Haus der Wannseekonferenz erarbeitete Ausstellung Gurs 1940 dauerhaft installiert; sie wird durch zehn Tafeln mit lokaler Perspektive ergänzt. Dort lernten sie den ehemaligen Lehrer Bernd Hainmüller kennen, der an diesen Tafeln mitgearbeitet hatte. „Er hat uns viel über das Judentum und jüdisches Leben vor 1933 berichtet, dabei haben wir viel Neues erfahren“, sagt Lena (16).

Schüler und Schülerin mit Maske

Die Freiburger Schüler*innen beschäftigen sich auch mit den Schicksalen der deportierten Kinder.

Sie findet das Projekt „ziemlich cool“: Sie und ihre Kolleg*innen hätten sich nicht nur Historisches selbst und in Teamwork erarbeitet. Sie hätten auch gelernt, Interviews zu führen oder aus viel Videomaterial einen guten Film zu machen. Zudem seien sie mit interessanten Menschen zusammengekommen, von denen sie „außer über die Verbrechen der Nazis auch viel über den heutigen Antisemitismus“ erfahren hätten. Und darüber, was es bedeutet, jüdisch zu sein: Hier gaben Silvia Schliebe von der Egalitären Jüdischen Chawurah Gescher Freiburg und Rob Ogman von der Landeszentrale für politische Bildung Auskunft. Organisatorin der Workshops ist Lehrerin Sandra Butsch.

Die Gespräche sind in einem Film und einem eben fertig gewordenen Roadcast dokumentiert. Das ist ein Podcast von unterwegs für unterwegs, erklärt Butsch. Dabei sind auch Aufnahmen mit Dory Sontheimer und Marlis Meckel. „Wir lernten sie bei einer Gedenkveranstaltung an den Stolpersteinen für Frau Sontheimers Großeltern und Urgroßvater kennen“, erinnert sich Abdou (20). Seither, sagt er, „renne ich nicht mehr einfach über solche Stolpersteine auf dem Gehweg weg, sondern mache einen Bogen oder lege eine Vollbremsung hin“: Dory Sontheimers Angehörige gehörten zu denen, die deportiert wurden. Doch zu den Überlebenden gehörten sie nicht.

Der im Lager Gurs entstandende Mickey-Comic

Der im Lager Gurs entstandene Mickey-Comic war für die AG-Teilnehmerc*innen ein anschaulicher Impuls für eigene Cartoons zum Thema Antisemitimus.

Auch Horst Rosenthal gehörte nicht zu den Überlebenden. Geblieben sind von ihm aber drei dünne Bücher mit Zeichnungen, die das Leben im Lager illustrieren. Mit einem dieser Bücher, „Mickey au Camp de Gurs“, haben sich die Schüler*innen eingehend beschäftigt. Auf Bernd Hainmüllers Anregung hin, der diese Comic-Kunst als widerständige Handlung und Überlebenshilfe sieht: Die damals wie heute bekannte Figur Micky Maus erlebt die Schrecken der Gefangenschaft, träumt von der Freiheit und radiert sich schließlich selbst aus, um nicht weiter gequält zu werden.

Dieser Cartoon, sagen alle AG-Teilnehmer*innen, habe sie sehr beeindruckt. Und sie haben ihn unter Anleitung des Comic-Zeichners Stefan Winter fortgezeichnet – mit eigenen Cartoons zum aktuellen Antisemitismus. Geplant ist, daraus einen Comic im Comic zu machen – ein eigenes Buch, das alle Geschichten zusammenführt. Nach der Rückkehr aus Gurs.

Fotos: © Erika Weisser, Abdou Ayewa, Staatsarchiv_Saarland, memorial de la shoa