„Es gibt jetzt kein Wegducken mehr“ – bib-Interview mit Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer Politik | 13.05.2023 | Lars Bargmann

Bärbel Schäfer Bärbel Schäfer: Die Freiburger Regierungspräsidentin (65) kennt auch eine positive Seite des Ukrainekriegs.

Randale in der Landeserstaufnahmestelle (LEA), das harte Ringen um Naturschutzgebiete, Verteilungskämpfe, der nicht endende Flüchtlingsstrom, die historisch niedrigen Grundwasserstände, die Geschicke von 301 Städten und Gemeinden in den Regionen Hochrhein-Bodensee, Südlicher Oberrhein und Schwarzwald-Baar-Heuberg:Das Aufgabenspektrum der Freiburger Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer ist durchaus bunt. Im Gespräch mit Chefredakteur Lars Bargmann kritisiert sie auch das Freizeitverhalten der Bevölkerung.

bib: Frau Schäfer, nach dem Überfall von Putins Russland auf die Ukraine kamen noch mehr Menschen als ohnehin schon nach Südbaden. Wie beschreiben Sie die aktuelle Lage?
Schäfer: Bei den ukrainischen Geflüchteten ist die Tendenz seit Ende 2022 weiter sinkend, in unserer Notunterkunft im ehemaligen OBI in St. Georgen sind derzeit zwischen 50 und 100 Menschen. Aber wir haben wieder eine steigende Tendenz Asylsuchender aus Drittstaaten. In unserer Landeserstaufnahmestelle haben wir aktuell ungefähr 800 Geflüchtete. Derzeit sind die Zahlen für uns unproblematisch, aber wir müssen uns auf weitere Zugänge vorbereiten.

bib: Die Laufzeit im OBI ist begrenzt …
Schäfer: Wir haben den Vertrag jetzt noch mal verlängert bis Ende Mai und sind noch im Gespräch mit dem Justizministerium und auch mit der Stadt, ob wir noch mal verlängern. Da ist noch keine Entscheidung getroffen.

bib: In der LEA gab es zuletzt durchaus ernste Probleme …
Schäfer: Es war wichtig, dass wir alle, die da irgendwie einen Hut im Ring haben, an einen Tisch geholt und in einer konzertierten Aktion wirklich alles in die Wege geleitet haben. Wir haben die Security erhöht, mit der Polizei gesprochen, dass sie noch häufiger präsent ist. Wir haben auch eine Polizeiwache auf dem Gelände. Wir haben mit der Staatsanwaltschaft gesprochen, damit man bei Straftaten auch schnell verfährt …

bib: … mit dem Ziel einer schnellen Abschiebung?
Schäfer: Nein, das geht nicht so schnell. Viele, die hier vor allem aus Nordafrika straffällig geworden sind, sind bei uns nicht vorbestraft. Man darf nicht glauben, dass die Leute dann gleich hinter Schloss und Riegel kommen. Aber es ist wichtig, dass es überhaupt sehr schnell ein Strafverfahren gibt. Das hat sehr viel bewirkt.

bib: Weil das auf dem Gelände kommuniziert wird?
Schäfer: Ja, das wird sofort kommuniziert. Auch sehr wichtig ist, dass wir Leute, die auffällig sind, die gewalttätig sind auf dem Gelände oder sich außerhalb strafbar machen, sehr schnell verlegt haben in andere Einrichtungen. Auch das spricht sich rum.

„Das ist so wichtig wie nichts anderes“

bib: Vor allem die Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten haben keine Bleibeperspektive. Die sind zwar da, aber das wird nicht irgendwie in einen Aufenthaltsstatus münden.
Schäfer: Das ist genau der Punkt. Es sind einfach zu langwierige Verfahren. Wir bräuchten mehr Leute vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, d. Red.), die diese Asylverfahren machen. Und wir brauchen wirklich auch noch mal viel mehr Energie, um Identitäten zu klären. Wir können nicht abschieben, wenn wir die wahre Identität gar nicht kennen.

bib: … die verschleiert wird?
Schäfer: … die gerne verschleiert wird. Die Pässe gibt es nicht, das heißt, wir brauchen Passersatz-Papiere. Dazu müssen wir die Identität klären. Das läuft dann zum Teil über das Auslesen von Handys, das ist ein mühsamer Prozess und da müssen wir schneller werden. Das BAMF braucht dringend mehr Personal.

bib: Da braucht es auch eine gute Portion Optimismus …
Schäfer: Die habe ich. Der Bund muss das BAMF besser ausstatten. Und ich glaube, dass wir das, was wir im Land selber machen können, künftig auch noch besser hinkriegen.

bib: Im Ländle kommen aktuell rund 2500 Menschen an, allein in der dritten Aprilwoche 139. Haben Sie noch Unterkünfte in der Hinterhand? Etwa in Waldkirch?
Schäfer: Wir sind an vielen Stellen dran, weil die Zahlen aus den Drittstaaten weiter steigen. Und wir können bestätigen, dass erste Gespräche mit den Eigentümern der Marseille-Kliniken zur Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete in der ehemaligen Herzkreislaufklinik in Waldkirch stattgefunden haben. Als Ergänzung zur LEA in Freiburg. Wir brauchen dauerhaft mehr Einrichtungen und Plätze in der Erstaufnahme. Wir haben derzeit rein formal einen Puffer von 400 Plätzen. Aber der ist unglaublich schnell gefüllt.

bib: Und durch den Klimawandel wird sich der Unterbringungsdruck auf Deutschland in Zukunft noch mal kräftig verstärken.
Schäfer: Nach einer Schätzung der Weltbank werden 2050 rund 200 Millionen Menschen auf der Flucht sein, doppelt so viel wie heute. In der Zahl stecken natürlich die Klimaflüchtlinge drin. Wenn die Menschen in ihren Ländern nichts mehr zu essen haben, wenn die Weltmeere steigen, wenn wir Unwetter und Flutkatastrophen haben, dann kommen die Leute dahin, wo sie sicher sind. Wenn es heute heißt, um Himmels willen, jetzt kommen so viele Menschen, dann ist das erst der Anfang. Und es zeigt uns, wie wichtig es ist, dass wir Klimaschutzmaßnahmen ergreifen und dass man nicht mehr sagen kann, och, das Windrad verdeckt jetzt irgendein Denkmal.

bib: … es gibt sogar Windräder, die nicht genehmigt wurden, weil sie in „optischer Konkurrenz“ zu einem unterirdischen Denkmal stehen…
Schäfer: So ist es. Wir haben jetzt wieder ein neues Positionspapier vom Schwarzwaldverein, wo gefordert wird, das Landschaftsbild muss wieder besser geschützt werden. Aber wenn wir jetzt nicht alle Hebel in Bewegung setzen, wird es das Landschaftsbild in einigen Jahren sowieso nicht mehr geben. Es ist nicht so, dass wir demnächst ertrinken, weil die Meeresspiegel steigen, aber andere sind ganz anders betroffen. Und auch die Trockenheit bedroht woanders viel existentieller als bei uns. Es ist eine sehr privilegierte oder elitäre Diskussion, was das Landschaftsbild angeht. Wir haben jahrzehntelang die Abraumhalden in der Lausitz nicht gesehen, aber wir haben davon gelebt. Und jetzt wären wir dran, einen kleinen Beitrag, was die Optik angeht, zu leisten. Wir müssen jetzt alles, alles machen. Das ist so wichtig wie nichts anderes.

bib: Da gab es im RP unter Ihren Vorgängern auch andere Positionen, auch andere auf dem Ministerpräsidentenstuhl.
Schäfer: Ja, natürlich. Weil man immer gedacht hat, der Kelch geht an uns vorbei. Aber jetzt gibt es einfach kein Wegducken mehr. So nach dem Motto, es sollen die anderen machen. Es ging uns ja auch gut, der Strom war nicht besonders teuer. Warum sollte man in Erneuerbare investieren? Jetzt sehen wir, dass die Leitungen vom windreichen Norden viel zu spät bei uns ankommen. Wir müssen uns unabhängig machen.

bib: Das heißt konkret in der Genehmigungspraxis?
Schäfer: Die Genehmigungen werden von den Landratsämtern erteilt, aber wir gucken ganz massiv, dass wir helfen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Mittlerweile wollen aber auch die Kommunen die Windkraftanlagen.

bib: Eine tote Fledermaus …
Schäfer: … Fledermäuse sind schon lange kein K.-o.-Kriterium mehr. Es gibt die EU-Notfallverordnung. Nach der können jetzt Windkraftflächen, die im Regionalplan ausgewiesen sind, sehr schnell ohne große Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt werden. Wir informieren aktiv über solche Flächen. Und unsere Stabsstelle schaltet sich ein, um Konflikte frühzeitig zu lösen.

bib: Ein konkretes Beispiel?
Schäfer: Wir haben in der Ortenau eine geplante Anlage, wo der Lahrer Flughafen erst mal wegen der Einflugschneise dagegenstand. Gemeinsam mit dem RP Stuttgart haben wir das gelöst …

bib: Die Einflugschneise wurde verändert?
Schäfer:  Es gibt jetzt eine Vereinbarung zwischen Projektträger und Flughafenbetreiber, dass die Einflugschneise perspektivisch gewechselt wird und vielleicht auf einen kleinen Anflug-Korridor verzichtet wird, der nicht ganz so relevant war. Oder wir hatten in Freiamt eine Anlage, wo ein Wasserschutzgebiet erst mal dagegenstand. Da haben wir ein aufwendiges Monitoring in Gang gesetzt, die Baustelleneinrichtung wird wirklich auf Nummer sicher gemacht und jetzt kann die Anlage auch in der Wasserschutzzone zwei stehen.

bib: Hat sich der Wind auch bei den Bürgern gedreht?
Schäfer: In dieser Hinsicht hat der Krieg gegen die Ukraine positiv gewirkt, das merken wir ganz, ganz deutlich. Die Haltung ist komplett eine andere. Während früher eigentlich überall Bürgerinitiativen irgendwas dagegen hatten, wird es jetzt viel weniger. Das hängt maßgeblich auch damit zusammen, dass die Gemeinden jetzt sagen, okay, das kommt jetzt eh und dann wollen wir lieber selber Windräder bauen, statt das den Projektentwicklern zu überlassen. Die Haltung der Rathäuser ist ganz entscheidend dafür, wie groß der Widerstand in der Gemeinde ist.

bib: Die grün-schwarze Landesregierung hat im Koalitionsvertrag 1000 neue Windräder bis 2026 stehen. 2021 waren es 28.
Schäfer: Viel zu wenig. Aktuell gibt es im Regierungsbezirk Freiburg 134 Anlagen mit einer Gesamtleistung von 289 Megawatt (MW). Aber die Landratsämter haben allein in jüngerer Zeit 34 Anlagen mit weiteren 190 MW genehmigt, die jetzt gebaut werden können. Da ist eine riesige Bewegung drin. Wir müssen jetzt alles machen, was irgendwie geht.

Nicht auf die Windstrom-Pipeline warten

bib: Nicht nur beim Wind …
Schäfer: Wir haben parallel ein großes Potenzial an Photovoltaik und wirklich einen starken Fuß in der Tür bei der Geothermie, die von den Projektinteressenten her fast schon durch die Decke schießt. Das sind flächendeckende Potenziale am Oberrhein und auch am Bodensee. Wenn man das zusammennimmt und noch ergänzt um die Wasserstoff-Diskussion, die auch ganz konkret am Hochrhein schon in konkrete Projekte mündet, dann sind wir absolut auf dem richtigen Weg.

bib: Noch muss ich mehr Kilowattstunden Strom in eine Kilowattstunde Wasserstoff investieren. Das macht nur dann Sinn, wenn der Strom auch aus Erneuerbaren Energien kommt.
Schäfer: Sie haben Recht, der Wasserstoff wird heute zum Großteil grau produziert, aus Gas. Wir dürfen jetzt also nicht warten, bis die Windstrom-Pipeline aus dem Norden 2040 irgendwann mal durch Südbaden führt. Sondern müssen selber grünen Wasserstoff produzieren.

bib: Die Pegel der meisten Flüsse und Bäche war 2022 auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren gefallen. „Uns muss das Frühjahr retten“, hatte der RP-Umweltabteilungsleiter Manuel Winterhalter-Stocker Anfang Januar gesagt. Hat es gereicht?
Schäfer: Wir sind sehr dankbar über den Regen, aber er hat uns nicht gerettet, sondern nur Schlimmeres verhindert. Wir hatten so erhebliche Defizite, das konnten der März und der April nicht ausgleichen. Die Grundwasser-Situation ist noch nicht in einer guten Ausgangslage für den Sommer.

bib: Drohen Trinkwassernotstände?
Schäfer: Wir haben keine akuten Trinkwasser-Engpässe. Im Moment muss man da keine Sorge haben. Aber es gibt Gemeinden im Hochschwarzwald, die sich aus eigenen Quellen versorgen und diese Quellen können in langen Trockenphasen auch in diesem Jahr wieder Probleme bekommen.

bib: Dann muss man Wasser hinbringen.
Schäfer: Ja, mit Tankwagen. Wir untersuchen gerade im Haus, wie die Wasserversorgungsstrukturen im Hinblick auf den Klimawandel aufgestellt sind. Wo gibt es schützenswerte Wasservorkommen? Oder wo muss halt die eine oder andere Gemeinde sich auch an ein größeres Trinkwasser-Netz anschließen? Diese Frage stellen wir landkreisbezogen und werden die ersten Ergebnisse für den Landkreis Tuttlingen im Sommer haben. Und da wird es dann halt Rot, Gelb oder Grün geben.

bib: Grundwasser war noch nie so wichtig wie heute?
Schäfer: Wir brauchen einen nachhaltigen Grundwasserspiegel, der uns versorgt. Und wir müssen sauberes Grundwasser auch schützen. Das ist das Wichtigste. Wir müssen aber auch den Hochwasserschutz im Blick haben und die Gewässerqualität. Je weniger Wasser wir irgendwo haben, desto schlechter ist die Qualität. Früher haben wir gestaut zu allen möglichen Zwecken, ob das jetzt Energie ist oder weil man dann da ein bisschen paddeln oder schwimmen kann. Das können wir jetzt nicht mehr machen. Und das müssen wir zum Teil auch rückgängig machen. Gestaute Flüsse können erhebliche Nachteile für die Gewässerökologie haben.

110 Millionen Euro für Natur- und Klimaschutz

bib: Was tun Sie konkret?
Schäfer: Wir sind im Moment ganz intensiv dabei zu gucken, wo Barrieren sind. Und wir müssen den Flüssen wieder das ursprüngliche Bett zurückgeben, das hilft auch für den Hochwasser-Fall. Die kanalisierten Flüsse kriegen im Starkregen eine viel zu hohe Geschwindigkeit und laufen dann irgendwo über. Wir haben aktuell das Renaturierungsprojekt an der Elz, wo wir erste Erfolge sehen. In Freiburg haben wir die Kartauswiesen gemacht. Ein ganz besonders schönes Projekt, zumal wir das nicht mal selber bezahlen mussten, weil es eine vorgezogene Ausgleichsmaßnahme der Rheintalbahn war. Eine double-win-Situation. Wir bauen in diesem Jahr in der Dreisam zwischen March und Nimburg Kaltwasserpools, in denen sich Fische und andere Wasserlebewesen bei Niedrigwasser aufhalten können, wie wir das im vergangenen Jahr in Freiburg in Höhe der Ganter-Brauerei gemacht haben. Und 2024 beginnt dann der nächste Abschnitt der naturnahen Gestaltung der Elz in Emmendingen.

Elz vorher

Vorher und nachher: An der Elz hat das RP dem kanalisierten Fluss mehr Raum gegeben.

Elz nachher

bib: Woher kommt das Geld?
Schäfer: Von Bund und Land. Wir haben im vergangenen Jahr Projekte für Wasser und Boden mit 35 Millionen Euro gefördert. 30 Millionen für den reinen Naturschutz, für Biodiversität ausgegeben, 30 Millionen für die Förderung kommunaler Radwege, E-Ladestationen oder barrierefreie Haltestellen. Und wir haben 2022 die Waldbesitzenden mit 13 Millionen Euro gefördert, damit sie nachhaltig bewirtschaften können.

bib: Im vergangenen Jahr hat das RP drei neue Naturschutzgebiete ausgewiesen. Beim Schangen-Dierloch bei Hochdorf hat das 30 Jahre gedauert. Wird es in Zukunft leichter, solche auszuweisen?Schäfer: Das glaube ich nicht. Ein Grund ist fachlicher Natur. Man muss Gutachten machen, man muss Flora und Fauna beobachten. Wir haben aber auch die großen Widerstände…

bib: … der immer härter geführte Kampf um die Flächen …
Schäfer: Ja, die Verteilungskämpfe sind natürlich größer geworden. Manchmal wird gesagt, man nimmt den Menschen die Fläche weg, um die Natur zu schützen. Das ist schon sehr mühsam und aufwendig. Da gibt es richtige Verhandlungsmarathons.

bib: Freiburg ist, mit sehr gebremstem Tempo, dabei, den Flächennutzungsplan 2040 aufzustellen. Finden darüber aktuell Gespräche statt?
Schäfer: Im Moment noch nicht, weil die Freiburger noch nicht so weit sind. Aber im Prinzip wird es mit uns besprochen, Flächennutzungspläne müssen mit uns gemeinsam entwickelt werden, weil wir sie ja genehmigen müssen.

bib: Dürfen Stand-up-Paddler ins Naturschutzgebiet?
Schäfer: Sie sprechen eine der vielen absurd anmutenden Themen an. Aber wir können unsere ­Freizeitbedürfnisse nicht mehr grenzenlos befriedigen. In Flachwasserzonen haben Stand-up-Paddler während der Brutzeit nichts zu suchen. Da erwarte ich schon ein bisschen mehr Umsicht. In Taubergießen haben wir im vergangenen Jahr während der Niedrigwasser-Phase das Bootfahren verboten. Wie unvernünftig sind die Menschen eigentlich? Bei schönem Wetter kommen wirklich jede Menge Menschen mit Paddelbooten, die dann ohne jede Rücksicht auf Verluste durchs Naturschutzgebiet paddeln.

bib: Frau Schäfer, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fotos: © Britt Schilling; Dieter Ruf