Stille verheißt Überleben: „Die Kunst der Stille“ – Marcel Marceaus Geheimnis STADTGEPLAUDER | 07.05.2022 | Erika Weisser

Pantomime: Film – die Kunst der Stille

Am 22. März wäre der weltberühmte Pantomime Marcel Marceau 99 Jahre alt geworden. 1923 wurde er als Sohn einer jüdischen Familie in Straßburg geboren. Über die tragischen Hintergründe von Marceaus Kunst der Stille hat der Züricher Regisseur Maurizius Staerkle Drux jetzt einen bewegenden Dokumentarfilm gedreht.

Ein Mann mit weiß geschminktem Gesicht und dunkel konturiertem Mund kommt ins Bild. Er hält den Kopf schräg, als würde er lauschen. In sich hinein lauschen. Er bewegt nur die Arme, die Hände. Sie scheinen zu fliegen, ein Ziel zu suchen. Schließlich formen sie ein Herz. Die leise, ruhige, fast monotone Musik hört sich plötzlich an wie ein schlagendes Herz.

Szenenwechsel. Eine weibliche Stimme fragt: „Wie sagt man auf pantomimisch ,Ich liebe Sie?‘“ Der ungeschminkte Mann auf der kleinen Bühne findet „diese Frage wunderbar“ und beginnt mit der Performance. Er dreht sich mit dem Rücken zum Publikum, beugt den Kopf nach vorne, überkreuzt die Arme vor dem Oberkörper und lässt seine Hände streichelnd über Rücken, Kopf und Nacken gleiten. Keck dreht er den Zuschauern den Kopf zu und sagt mit einem Augenzwinkern, dass es auch einfacher geht: Er bittet die Fragestellerin auf die Bühne und umarmt sie. Und lacht.

Der Pantomime Marcel Marceau und sein Cousin Georges Loinger

Der Pantomime Marcel Marceau und sein Cousin Georges Loinger (r.) retteten jüdische Kinder vor den Nazis, darunter auch Georges‘ Sohn Daniel Loinger (l.).

Lebensretter mit Ringelhemd und Rose

Er kann aber auch traurig sein. Todtraurig. In Marcel Marceaus Kunst liegen Glück und Trauer ganz nahe beieinander, machen die innere Spannung seiner Seele aus. Wie in seinem Leben: Ihm selbst ist es nach der Annexion des Elsass durch die deutsche Wehrmacht zwar gelungen, aus Straßburg zu entkommen. Doch seinen Vater Charles Mangel konnte er nicht retten. Er wurde verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Das hat den Pantomimen sein Leben lang belastet, wie Maurizius Staerkle Druxs Film eindringlich zeigt.

„Marceau“, sagt der Regisseur, „hat mich seit meiner Kindheit begleitet.“ Dabei ist der 1988 geborene Dozent für Ton im Film an der Zürcher Hochschule der Künste dem im Jahr 2007 verstorbenen Künstler nie persönlich begegnet. Da der Pantomime aber im Leben seines von Geburt an gehörlosen Vaters Christoph Drux eine ganz zentrale, ja existenzielle Rolle spielte, sei er selbst früh mit der Welt der Gebärden und der Stille in Berührung gekommen. Der Vater hatte Marceau als Kind bei einem Theaterbesuch kennengelernt: Im Film erzählt Christoph Drux, wie begeistert er war, als er sofort perfekt verstand, was dieser zugleich traurige und lustige „Bip“ mit Ringelhemd und einer Rose am zerbeulten Hut zu sagen hatte und wie er dazu „keine Geräusche brauchte“. „Hätte mir das nie jemand gezeigt, wäre ich verloren gewesen“, beteuert der Mann, der selbst als Pantomime auf Kleinkunstbühnen zu Hause war.

Regisseur Maurizius Staerkle Drux

Regisseur Maurizius Staerkle Drux ist mit der Stille aufgewachsen.

Nicht nur den Vater hat Marceaus Kunst gerettet: Maurizius Staerkle Drux erinnert sich an eine Begegnung in New York – mit einer alten Dame, die ihm beteuerte, dass ihr ein Pantomime das Leben gerettet habe. Das sei ganz am Anfang des Filmprojekts gewesen und habe ihn gleich „hellhörig und neugierig gemacht“. Er habe dann eingehender über Marceaus Leben geforscht und ein paar weniger bekannte Aktivitäten entdeckt: Er fand heraus, dass Marceau sich der Résistance angeschlossen und mit seinem Cousin Georges Loinger heimlich jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz geschmuggelt hatte. Bei dieser Recherche traf er dann sogar noch auf Georges Loinger, der damals bereits 105 Jahre alt war. Dieser berichtete bereitwillig, wie Marcel die Kinder lehrte, in Gefahrensituationen nicht zu sprechen und die Stille zu nutzen, um zu überleben. Mit dem inzwischen verstorbenen Loinger, erinnert sich Drux, habe er die ersten Szenen gedreht, die er dann für den Film verwendete – nach vielen Gesprächen, bei denen auch der damals gerettete Daniel Loinger anwesend war.

Das habe er auch mit Marceaus Witwe Anna Sicco und ihren Töchtern Camille und Aurélia Marceau so gehalten. Die Familienmitglieder, die sich zehn Jahre nach Marceaus Tod zum ersten Mal mit jemand Unbekanntem über den Menschen und Künstler unterhielten, waren erst nach vielen Begegnungen ohne Kamera bereit, auch vor der Kamera von ihm, seinem Leben und seinem Wirken zu erzählen. Von der anfänglichen Distanz ist im Film nichts zu spüren: Die drei Frauen, der Enkel Louis Chevalier und viele andere Weggefährten erzählen so unbefangen und vertraut, als wäre der junge Regisseur ein alter Freund. Ein großartiger Film. Chapeau!

INFO:
Die Kunst der Stille
Schweiz 2022
Regie: Maurizius Staerkle Drux
Dokumentarfilm; 85 Minuten
Verleih: W-Film (D), Cineworx (CH)

15., 17., und 22. Mai im Kommunalen Kino Freiburg
www.koki-freiburg.de

Ab 19. Mai im kult.kino Basel
www.kultkino.ch/film/artdusilence/

Fotos: © W-Film, MAXDRUX Gmbh