Zu gut für die Tonne: Freiburger im Kampf gegen verschwendete Lebensmittel STADTGEPLAUDER | 08.01.2016 | Tanja Senn

Frankreichs Supermärkte haben es vorgemacht: Sie haben sich im vergangenen August verpflichtet, nicht verkaufte Lebensmittel zu spenden, statt sie wegzuschmeißen. Doch wo landen eigentlich in Freiburg Tomaten, Brot & Co., wenn sie nicht verkauft werden? chilli-Redakteurin Tanja Bruckert hat sich auf Spurensuche gemacht.

Es ist dunkel, kalt, es regnet. Eigentlich ein Abend für die Couch, doch Marilena Holpert (richtiger Name der Redaktion bekannt) steht hinter einem Bio-Supermarkt und hebelt mit einer Gabel das Schloss des Eisengitters auf, hinter dem die Mülltonnen des Ladens weggeschlossen sind. Einige Minuten später hängt die 25-Jährige kopfüber in einem Container und zieht eine Palette mit am Vortag abgelaufener Schafsmilch hervor. Neben ihr, auf dem Deckel einer braunen Tonne, liegen bereits eine Ananas mit braunen Blättern, eine Kaki mit Delle, zwei krumme Paprika und ein Salatkopf mit welken äußeren Blättern. „Heute ist nicht viel zu holen“, tut Holpert die Ausbeute ab, die wenig später einen Trekkingrucksack und eine Einkaufstasche in Ikea-Größe füllt.

In Deutschlands Mülltonnen ist einiges zu holen: Jedes achte Lebensmittel, das gekauft wird, landet im Müll. Und das ist nicht nur Verdorbenes, sondern viel zu oft Essbares, das nur nicht mehr appetitlich genug erscheint.

Davon lässt es sich gut leben, weiß die Psychologie-Studentin, die sich jahrelang vom sogenannten Containern ernährt hat – einkaufen musste sie nur lang haltbare Waren wie Mehl oder Nudeln, die selten in der Tonne landen. Wie die meisten Menschen, die im Müll nach Lebensmitteln suchen, will Holpert nicht in erster Linie Geld sparen, sondern gegen die Wegwerfgesellschaft protestieren. Schließlich ist es nicht nur ethisch bedenklich, dass Lebensmittel weggeschmissen werden, während etwa eine Milliarde Menschen hungert. Es hat auch Folgen für die Umwelt, da Ressourcen wie Wasser und Ackerboden sowie Energie verschwendet werden. Und es strapaziert den eigenen Geldbeutel, denn pro Person wandern jährlich Lebensmittel im Wert von 235 Euro in die Tonne.

Zwei Herangehensweisen, ein Ziel: Marilena Holpert fischt Lebensmittel aus dem Müll.

Legal ist das Containern nicht: Ohne Erlaubnis darf kein Müll aus der Tonne gefischt werden – erst recht nicht, wenn dafür Schlösser geknackt werden müssen. Nach Angaben des Polizeipräsidiums gab es in Freiburg jedoch noch keinerlei Beschwerden. Damit das so bleibt, achtet Holpert darauf, nichts zu beschädigen oder herumliegen zu lassen.

Wer gegen die Verschwendung von Lebensmitteln angehen will, kann das natürlich auch legal tun. Größter Akteur sind hierbei die Tafeln. Bei der Tafel in Freiburg wurden allein im September 50 Tonnen Lebensmittel gerettet und an knapp 4000 Be-dürftige abgegeben. Und der Bedarf wächst: 600 neue Kunden hat der Tafelladen in diesem Jahr – viele davon Flüchtlinge.

Um zehn Uhr morgens ist vor dem Geschäft an der Schwarzwaldstraße Hochbetrieb. Eine Traube von Menschen wartet auf Einlass, ein Mitarbeiter mit Häkelmütze verteilt blaue Einlassmarken, die von 1 bis 100 durchnummeriert sind. Kaum öffnet sich die Tür, stürmen die Kunden mit den niedrigsten Nummern in den Laden. Kürbisse für zehn Cent das Stück wandern in die Einkaufswagen, oder Donuts vom Vortag.

Im Raum daneben sortieren Helferinnen in dunkelblauen Schürzen das Obst und Gemüse, das die Transporter von ihren Touren mitgebracht haben. Sie zupfen welke Blätter vom Eichblattsalat, nehmen aus einem Netz mit Orangen die vergammelten heraus und verpacken den Rest neu, befreien die Radieschen von ihrem laschen Grün. Bis zum späten Nachmittag stehen die Helfer an dem blanken Edelstahltisch – bis auch der letzte Kunde versorgt werden konnte. Mit leeren Händen muss niemand gehen. Bisher sei die Stimmung deshalb auch gut, berichtet Tafelleiterin Anne-Catrin Mecklenburg, hier müsse niemand Angst haben, dass ihm die Flüchtlinge die Waren wegschnappen. Im Gegenteil: Momentan helfen zwei Asylbewerber ehrenamtlich bei der Tafel mit.

Die Transporter fahren täglich etwa 50 Betriebe an – laut Mecklenburg gibt es kaum einen Supermarkt oder einen Discounter, der seine überzählige Ware nicht an die Tafel gibt. Viele Bäckereien, kleine Läden und Bauern machen mit. Auch Privatpersonen können Lebensmittel bei der Tafel abgeben: Schließlich entstehen 61 Prozent der Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten. Auf die Industrie entfallen 17, auf den Handel gerade einmal fünf Prozent. In Deutschland sind das laut Angaben des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels immerhin noch 310.000 Tonnen im Jahr.

Zwei Herangehensweisen, ein Ziel: Bei der Freiburger Tafel wird weitergegeben, was nicht mehr „verkaufsschön“ ist.

„Wir bekommen die Ware, die nicht mehr verkaufsschön ist“, erklärt Mecklenburg. Was die Tafel nicht will – etwa, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist –, geht an die Foodsaver. Sieben von ihnen knien an diesem Montagmorgen vor grünen Kisten, die vor der Laderampe eines Supermarkts stehen. Aus ihren Rucksäcken ziehen sie Tüten und Tupperdosen hervor, in die Bananen, Limetten oder Trauben wandern. Rosensträuße oder Basilikumpflanzen, die die Blätter etwas hängen lassen, werden in Fahrradkörben verstaut.

Eine Frau in den Zwanzigern lässt ein Brot nach dem anderen in ihren Taschen verschwinden. Für sich selbst, für die Nachbarn und für den Fairteiler – einen der drei Umschlagsorte der Initiative, an denen sich jeder bedienen darf. Zudem kann jeder, der Essen übrig hat, dieses über foodsharing.de verschenken – vom abgelaufenen Joghurt bis hin zum selbst gekochten Gulasch.

Im Unterschied zur Tafel geht es dem 2013 gegründeten Verein foodsharing nicht in erster Linie darum, Bedürftigen zu helfen, sondern die Lebensmittel vor der Tonne zu bewahren. In Freiburg sind aktuell 432 dieser Lebensmittelretter aktiv, die bei Geschäften oder auf dem Markt Waren abholen. Und das sind längst nicht genug. „Wir haben viele Anfragen von Händlern, die wir ablehnen müssen“, erzählt Daniel Haselwander von der Ortsgruppe Freiburg, „weil wir nicht gewährleisten können, die Waren regelmäßig abzuholen.“ Die meisten Foodsaver seien Studenten, und der Verein will sichergehen, dass die bislang 25 kooperierenden Händler in den Semesterferien nicht auf ihren übriggebliebenen Sachen sitzenbleiben.

Bei den Foodsavern aktiv ist auch Marilena Holpert. Containern geht sie nur noch ab und zu – für den Nervenkitzel. Doch über Foodsharing versorgt sie regelmäßig nicht nur sich selbst, sondern auch ihre neunköpfige WG. Mit vier großen „Susi-Kisten“ im Kofferraum fährt sie zur Siedlungsinitiative im Vauban. In deren Keller ist einer der Fairteilerpunkte. Und wie stellen die Foodsaver sicher, dass das mühsam gerettete Essen hier nicht doch vergammelt? Über die Frage muss Holpert lachen: „Hiervon ist in ein paar Stunden nicht mehr eine Karotte übrig.“

Fotos: © Tanja Senn