Buch-Rezi: Radio Nacht – Musik vom Nullmeridian 4Literatur & Kolumnen | 01.12.2022 | Erika Weisser

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Es ist Mitternacht. Der 13. Dezember, ein Freitag, bricht an – „der schlimmste Tag des schlimmsten Monats am schlimmsten Wochen-tag“, sagt die Stimme aus dem Radio. Sie gehört Josip Rotsky, der täglich von null bis acht Uhr auf Amateursendung ist. Von einem ungenannten, am Nullmeridian gelegenen Ort aus wendet er sich an seine Hörer und Hörerinnen, um auch deren „Nächte mit Schlaflosigkeit zu füllen“: mit Alltagserinnerungen, Fluchtgeschichten, philosophischen Gespinsten und viel Musik – dem Soundtrack seines Lebens.

„Radio Nacht“ nennt Rotsky sein Programm, mit dem er ständig neue Hörer erreicht, was er anhand der Leuchtpunkte auf der Weltkarte seines „hinter vier Wänden versteckten“ Studios erkennen kann. Verstecken muss sich dieser „prätentiöse Hybrid“ der aus Galizien stammenden Schriftsteller Joseph Brodski und Joseph Roth, weil er zum Attentäter wurde: Rotsky hatte die Revolution in seinem Land als Barrikadenpianist unterstützt – und den für ihre Niederschlagung verantwortlichen „vorletzten Diktator der Welt“ niedergeschossen, als er ihn im Schweizer Exil wiedertraf. Versehentlich, wie er beteuert.

Ein virtuos-poetischer Schelmenroman, der die Geschichte der Ukraine erzählt, ohne dass der Name des Landes auch nur ein einziges Mal erwähnt wird.

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Radio Nacht
von Juri Andruchowytsch
Verlag: Suhrkamp, 2022
472 Seiten, gebunden
Preis: 26 Euro