Bühne frei für den Bürgerentscheid: Gewinnt die Landwirtschaft oder der Wohnraum? Bauen & Wohnen | 15.02.2019 | Lars Bargmann

Der Showdown naht: Am 24. Februar entscheidet nicht mehr die Politik über den neuen Stadtteil Dietenbach, sondern das Volk. In der einen Ecke stehen die, die wirksam etwas gegen die Wohnungsnot und die damit verbundenen Probleme tun wollen, in der anderen die, die wachstumskritisch sind und die Landwirtschaft, Natur- und Klimaschutz vor den Wohnraum stellen. Vorhersagen sind seriös nicht zu machen. Klar ist aber, dass der 24. Februar den bisher wichtigsten Bürgerentscheid in der Geschichte der Stadt Freiburg markiert.

Martin Haag ist zuversichtlich. Der Baubürgermeister gibt sich im Redaktionsgespräch klar und kämpferisch. „Die Innenentwicklung reicht, auch wenn sie weiter nötig ist, sicher nicht aus, um die Wohnungsnot in den Griff zu kriegen. Das geht nur mit Dietenbach. Und ich glaube, dass die Bürger auch so entscheiden.“

Wenn aber die Volksabstimmung gegen den neuen Stadtteil – den bundesweit derzeit größten geplanten – ausgeht? Wenn Dietenbach den Bach runtergeht? Dann kommt das ebenfalls schon untersuchte Gebiet St. Georgen-West wieder auf den Tisch. Aber auch andere Flächen, der Mooswald, der Flugplatz.

Eine Bebauung eines Teilstücks des Mooswalds zwischen den Rändern der Mooswald-Siedlung und der Westrandstraße kommt für Oberbürgermeister Martin Horn nicht in Frage. Da bleibt er der Linie seines Vorgängers Dieter Salomon treu. Dass der Flugplatz – nach dem Bürgerentscheid für den Erhalt im Jahr 1995 – bei der Aufstellung des neuen Flächennutzungsplans 2040 wieder aufs Tapet kommen wird, hatte das chilli schon vor einem Jahr gemutmaßt. Ob dort aber – nicht zuletzt wegen des neuen Fußballstadions – gewohnt werden kann, ist stark zu bezweifeln.

So könnte Dietenbach mal aussehen: Den Wettbewerb hatte das Freiburger Büro K9 Architekten gewonnen. Der Entwurf (s.o.) sieht eine zentrale Mitte und zwei größere Parkflächen vor. Am namensgebenden Dietenbach sind Verweilzonen geplant.

Auch bei den anderen größeren Flächen sind die Hürden hoch, wenn nicht unüberwindbar. Auf der Zähringen-Nord genannten Fläche zerbröselt der große Wurf mit bis zu 1500 Wohnungen gerade an dem benachbarten Störfallbetrieb. In Zinklern muss die geplante Bebauung mit 550 Wohnungen komplett neu aufgerollt werden, weil ein Eigentümer mit einem zentralen Grundstück dem Rathaus die kalte Schulter zeigt.

Die Gegner führen dessen ungeachtet Zinklern und Zähringen-Nord weiter in ihrer Liste mit Dietenbach-Alternativen: 5000 Wohneinheiten seien mit Aufstockungen von Gebäuden oder Dachausbauten zu realisieren. 3000 mit dem Überbauen von Parkplätzen. Das Potenzial für „bezahlbaren Wohnraum“ läge mit Anbauten und dem Ausbau von Hinterhäusern bei 9000 Einheiten. Das ist noch deutlich wirklichkeitsferner als die Rede von einem klimaneutralen Stadtteil.

»Kolossale Fehleinschätzung«

Spannender wird die Frage sein, wie viel Millionen Euro die Stadtverwaltung – und somit der Steuerzahler – für Dietenbach hinblättern müsste. Der – von den Linken initiierte – Beschluss des Gemeinderats, faktisch 50 Prozent der Wohnraumflächen als öffentlich geförderte herzustellen, wird die geplanten 600 Millionen Euro Erlöse aus dem Verkauf der Grundstücke massiv abschmelzen – wenn die ortsübliche Vergleichsmiete unter 10 Euro liegt. Denn für Mieten um die sieben Euro kann heutzutage nur in besonderen Konstellationen neuer Wohnraum geschaffen werden. Aber nicht in großem Stil.

Bei der Suche nach Wohnungsbauunternehmen, die den defizitären geförderten Wohnraum bauen können, landet man schnell bei der Freiburger Stadtbau. Gleich 1500 soll sie im Dietenbach erstellen. „Wenn das der politische Wille ist, dann müssen alle Beteiligten viel Kreativität bei der Finanzierung zeigen“, drückt es Stadtbau-Chef Ralf Klausmann vorsichtig aus. Und: Die Stadtbau hat ein eigenes Programm mit 3100 neuen Wohnungen bis 2028. Beides zusammen könnte die Gesellschaft nicht stemmen.

40 Prozent des insgesamt 157 Fußballfelder großen Areals liegen in den Händen von Stadt und Land. Prinzipiell können dort ausschließlich geförderte Wohnungen gebaut werden. Wenn es jemand bezahlt. Die Hoffnung richtet sich auf Bund und Land, die bis zum Baubeginn ihre Förderrichtlinien deutlich verändern müssten, wenn die Kommunen und ihre Wohnungsbaugesellschaften nicht den Preis für die verfehlte Förderpolitik bezahlen sollen. Den Rückzug von Bund und Ländern wertet auch Haag heute als „kolossale Fehleinschätzung“.

Grünfläche gegen Stadtteil: Noch regiert im Plangebiet die Landwirtschaft.

Fast 60 Prozent der Fläche könnten irgendwann der Freiburger Sparkasse gehören, die mit ihrem Kooperationsmodell (65 Euro pro Quadratmeter Land anstelle der von der Stadt angebotenen 15) mittlerweile mehr als 85 Prozent der 600-köpfigen, privaten Eigentümerschaft überzeugt hat. Wenn der Bürgerentscheid gegen den neuen Stadtteil ausgeht, muss die Bank ihre eigens gegründete Entwicklungsmaßnahme Dietenbach KG dichtmachen und hat rund 100.000 Euro verloren. Deutlich teurer wird es, wenn der Stadtteil kommt, die finanziellen Rahmenbedingungen aber nicht passen. „Wir brauchen irgendwann eine belastbare Kostenrechnung von der Stadt“, sagt der Vorstandsvorsitzende Marcel Thimm.

Wenn die Rechnung aus den Erlösen und den Kosten ganz am Ende nicht aufgehe, dann könnte das Rathaus die KG – mit dann vermutlich bis zu acht Millionen an Verlustvorträgen – kaufen. Thimm ist „sehr zuversichtlich“, dass es dazu nicht kommt: „Die Kraft des Faktischen wird alle Beteiligten zu einem vernünftigen Kompromiss führen“. Es ist kein Geheimnis, dass die Bank die 50-Prozent-Quote sehr skeptisch einschätzt.

Die Gegner mutmaßen schon heute, dass sich der gemeinderätliche Beschluss als „Seifenblase“ entpuppen könnte, weil mit ihm die Kosten weder geprüft noch gedeckelt wurden. Zudem würde der neue Stadtteil die Mieten nicht sinken, sondern steigen lassen. Weil die geförderten Wohnungen nicht in den Mietspiegel kämen, die teuren neuen dagegen schon. Das stimmt. Haag aber glaubt vielmehr, dass ein verlorener Bürgerentscheid zu einer „gigantischen Preissteigerung“ in Freiburg führen würde.

Es ist wie bei so vielen Themen: Die einen sagen so, die anderen sagen so. Geht es um die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung, gibt es dazu auch reichlich Anlass: Das Landesamt für Statistik geht davon aus, dass vom Jahr 2022 an die Einwohnerzahl bei gut 236.000 bis ins Jahr 2035 gleich bleibt. Die städtischen Statistiker glauben, dass schon 2030 rund 245.000 Menschen in Freiburg leben. Und das Institut Empirica geht von 18.600 zusätzlichen Haushalten bis zum Jahr 2030 aus, die knapp 1,9 Millionen Quadratmeter Wohnfläche benötigen.

Die Bauern hängen Banner auf und fahren mit ihren Treckern in die Stadt.

Haag sieht keinerlei Anzeichen für eine Stagnation: Die Hochschulen und die private Forschung in Freiburg seien sehr attraktiv, die hohe Lebensqualität, das prozentual stärkste Arbeitsplatzwachstum in Baden-Württemberg, die generelle Stadtflucht – Freiburg werde weiter kräftig wachsen.

Lange nach den Gegnern haben sich auch neue Player in die Debatte eingeschaltet, ein bislang einmaliges Bündnis aus Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, großen Arbeitgebern, Kirchenorganisationen, Kammern, Verbänden und Studierendenwerk. Dessen Geschäftsführer Clemens Metz will 700 Wohnheimplätze im Quartier bauen, Handwerkskammerpräsident Johannes Ullrich will eine Meistermeile mit Wohnungen für Azubis, das Uniklinikum selber für ihre Beschäftigten bauen.

Die Stadtverwaltung rechnet heute mit einem Boden-Quadratmeterpreis von 680 bis 720 Euro, je nachdem, ob ein Reihenhaus oder Geschosswohnungsbau obendrauf kommt. Ein erstes Gedankenexperiment: Wenn auf der einen Seite des Grundstücks geförderter Wohnraum gebaut wird, dann wird ein privater Bauherr hier die Grundstückskosten auf „null“ setzen, damit es wirtschaftlich darstellbar ist. Dann muss er auf der anderen Seite 1400 Euro pro Quadratmeter Grundstücksanteil im frei finanzierten Eigentumswohnungsbau kalkulieren. Was in Freiburg alles andere als sensationell ist. Hinzu kommen rund 3000 Euro für den Bau eines Quadratmeters, Finanzierungs- und Vertriebskosten, der Deckungsbeitrag fürs Risiko – ein Preis unter 5400 Euro ist unwahrscheinlich.

Das spricht gar nicht gegen Dietenbach, denn in der Innenentwicklung wird es noch teurer. Schon 2017 lag der durchschnittliche Kaufpreis für einen Neubauquadratmeter in Freiburg bei 5334 Euro. Schuld sind vor allem die gestiegenen Bau- und Grundstückspreise. Das kann man trefflich kritisieren, es nützt nur nichts.

Ein zweites: Menschen, die heute schon eine Eigentumswohnung haben, haben eine mindestens wertstabile Geldanlage und – wenn sie diese nicht selber nutzen – auch keine Mühe, die Wohnung gut zu vermieten. Werden sie mit „Nein“ stimmen und damit „Ja“ zum neuen Stadtteil sagen, wo der doch so viel „bezahlbaren Wohnraum“ bringt?

Dass Grünflächen die Massen mobilisieren können, hat das Emmendinger Rathaus vor gut zwei Jahren schmerzhaft gespürt, als die Bevölkerung – mit großer Mehrheit – die Bebauung des Gewanns Haselwald/Spitzmatten verhinderte.

Klar ist, dass in Freiburg die Landwirte die Verlierer eines neuen Stadtteils wären, „das braucht man nicht schönzureden“, sagt Haag. Es gelte eben abzuwägen zwischen zwölf Vollerwerbs- und zwei Nebenerwerbslandwirten und 15.000 untergebrachten Freiburgern. Verliert die Politik die Volksabstimmung, versinken mal eben sechs Jahre Planung im Dietenbach.

Das ZMF könnte weiter über die Bühne gehen.

„Wir brauchen Dietenbach, weil Freiburg sonst keine Zukunft hat“, steht als Zitat auf einer Seite in einer Sonderausgabe des städtischen Amtsblatts, das 43 von 48 Stadträten unterzeichnet haben (neben den Vertretern von Freiburg Lebenswert/Für Freiburg fehlt dort übrigens auch UL-Stadträtin Brigitte von Savigny). Die Formulierung schießt durchaus übers Ziel hinaus. Aber der 24. Februar wird für die Zukunft von Freiburg eine sehr wichtige Weiche stellen. Längst nicht nur eine wohnungswirtschaftliche.

Was bisher geschah

  • April 2012: Die Fraktionen von CDU, SPD, FDP und Freien Wählern fordern die Bebauung von Rieselfeld-Nord mit rund 5000 Wohnungen.
  • November 2012: Das Rathaus will einen neuen Stadtteil als „städtebauliche Entwicklungsmaßnahme“ voranbringen. Die erlaubt auch Enteignungen. Dazu muss aber auch eine Alternative untersucht werden: „St. Georgen-West“.
  • April 2013: Der Wert der fraglichen Flächen wird von einem Gutachter auf 15 Euro/Quadratmeter taxiert.
  • Mai 2015: Der Gemeinderat entscheidet für Dietenbach und gegen St. Georgen-West.
  • Januar 2017: Das Rathaus stellt das Kooperationsmodell mit der Sparkasse vor. Jetzt können die Eigentümer 65 Euro/Quadratmeter bekommen.
  • Oktober 2018: Das Freiburger Büro K9 Architekten gewinnt mit Partnern den städtebaulichen Wettbewerb. Das Bürgerbegehren für einen Bürgerentscheid ist erfolgreich.
  • November 2018: Der Gemeinderat beschließt 50 Prozent sozialen Mietwohnungsbau für Dietenbach.
  • 24. Februar 2019: Freiburger Bürger entscheiden über den neuen Stadtteil.

Die Kontrahenten

Zu den Gegnern des neuen Stadtteils zählen: Fraktion Freiburg Lebenswert/Für Freiburg, RegioBündnis Pro Landwirtschaft, Natur & ökosoziales Wohnen, BUND Freiburg, Bürgerinitiative Pro Landwirtschaft und Wald in Freiburg-Dietenbach & Regio, ECOtrinova, Gartenleben Freiburg, Klimabündnis Freiburg, NABU Freiburg, ÖDP Freiburg, Plan B, der BI Unterm Heidach (Denzlingen).

Zu den Befürworten zählen: Stadtverwaltung, Grüne, CDU, SPD, Unabhängige Listen, FDP, Freie Wähler, JPG, Arbeitsagentur, AWO, Bauwirtschaft e.V., Caritas Freiburg, Diakonie Freiburg, Dehoga, DGB, DRK, FWTM, GEW, Handelsverband Südbaden, HWK, Haufe Group, IHK, IG Metall, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Studierendenwerk, Wirtschaftsförderung Region.

Was das alles kostet

Dietenbach wird – ohne eine einzige Wohnung – voraussichtlich rund 700 Millionen Euro kosten. Maßgebliche Verursacher sind die Erschließung (120 Millionen Euro), der Bau von Grund- und weiterführenden Schulen (118), von Kitas und sonstigen Einrichtungen (90), das Projektmanagement (56), die Grünanlagen (53), die Entwässerung (31), das Freimachen und die Modellierung des Geländes (30), die Finanzierung (30), der Grunderwerb (24), Planung und Gutachten (17), Ausgleichsmaßnahmen (12), Entschädigungen (7) und der Gewässerausbau (6).

Der Verkauf der Grundstücke soll 574 Millionen bringen, aus Fördermitteln sollen 19 Millionen kommen. Bleiben unterm Strich rund 100 Millionen, die aus dem Stadtsäckel fließen müssen. Die Erlöse aus dem Grundstücksverkauf werden nach dem Beschluss der 50-Prozent-Quote von Experten massiv bezweifelt.

Fotos: © Neithard Schleier, Felix Holm, Karl Schwörer, bar

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