Dietenbach im Faktencheck: Elf Thesen zum Wahlkampf in der chilli-Analyse STADTGEPLAUDER | 17.02.2019 | Till Neumann & Lars Bargmann

Bauen oder nicht? Das ist am 24. Februar die große Frage. Das können die Freiburger an diesem Tag entscheiden: Soll ein neuer Stadtteil für 15.000 Menschen auf dem Dietenbachgelände gebaut werden? Oder wird der Plan gestoppt? Im Wahlkampf stehen oft Aussage gegen Aussage. Das chilli nimmt elf Thesen unter die Lupe.

1. Nur ein neues Viertel kann das Wohnproblem lösen.
Das sagen viele Experten. Freiburg wächst. Zuletzt stärker als gedacht. Genaue Prognosen sind jedoch schwierig. Laut Statistischem Landesamt steigt die Einwohnerzahl bis 2025 auf 236.400. Fakt ist: Wohnraum ist Mangelware. Bezahlbarer erst recht. Allein bei der Stadtbau sind 6000 Wohnungssuchende gemeldet.

2. Es braucht keinen neuen Stadtteil. Nachverdichtung tut’s auch.
Das ist ein Argument der Dietenbach-Gegner. Sie sagen: Bestehende Häuser könnten aufgestockt, Dachgeschosse ausgebaut werden, Parkplätze mit Wohnungen überbaut, Leerstand bekämpft werden. Der beträgt laut dem Institut Empirica aktuelll 0,5 Prozent. Potenzial für Verdichtung ist zwar vorhanden. In der Größenordnung von Dietenbach aber nicht.

3. Fast alle Stadträte sind für Dietenbach. Die Gegner haben keine Chance.
Stimmt vielleicht. Selten gab es bei Politikern und Entscheidungsträgern so eine breite Front. Im Gemeinderat stellen sich nur Freiburg Lebenswert/Für Freiburg gegen den Bau. Also 4 von 48 Räten. Dennoch wagt kaum ein Experte eine Prognose seit Martin Horns Wahlerfolg. Zumal die Gegner einen Coup gelandet haben: Sie sammelten mehr als 17.000 Stimmen für einen Bürgerentscheid. Das chilli prophezeit: Es wird ein enges Rennen.

4. Dietenbach wird 50 Prozent geförderte Mietwohnungen bekommen.
So hat es der Gemeinderat beschlossen. Manche meinen, das werde nicht bezahlbar sein, weil der Stadtteil auch noch klimaneutral, inklusiv, architektonisch teuer und mit weitläufigen Grünflächen, 20 Kitas und Schulen ausgestattet werden soll – barrierefrei. Ob das aber, selbst wenn es deswegen noch einmal eine politische Kehrtwende geben würde, rechtlich durchsetzbar wäre, ist eine unbeantwortete Frage. Schließlich wird der Bürgerentscheid unter der 50-Prozent-Quote gefällt. Die Gegner argumentieren: Auch im Rieselfeld sind 50 Prozent Sozialwohnungen versprochen worden. Gebaut wurden aber nur 15 Prozent. Zumal ist es ein Allgemeinplatz, dass Großprojekte meist ein x-faches teurer werden. Stuttgart 21 oder das neue SC-Stadion zum Beispiel.

5. Die Dietenbach-Landwirte werden aus Freiburg vertrieben.
Ja. Sie haben mehrfach protestiert – auch mit Traktoren. Teilweise geht es um Land, das seit Generationen in Familienhand ist. Statt anfänglichen 15 Euro pro Quadratmeter sollen sie nun 65 Euro bekommen. Ausgleichsflächen soll es geben. Landwirte bemängeln aber Ende Januar: „Nach wie vor gibt es nicht genügend Ersatzflächen und auch noch keine Informationen darüber, wo sich diese Flächen befinden sollen.“ Fakt ist: Sie sind definitiv die Verlierer des Wachstums, wenn dort gebaut wird.

6. Ein neues Viertel ist schlecht für die Umwelt.
Klar, ein Neubau braucht Fläche und belastet die Umwelt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gebaut werden muss in jedem Fall. Passiert das in der Großstadt, kann das kompakter geschehen als im Umland. Das Rathaus betont daher: Wird in der Regio gebaut, braucht das bis zu vier Mal mehr Fläche. Außerdem erhöht es Pendlerzahlen und Staus. Die Befürworter sind daher überzeugt: Dietenbach ist für den Umweltschutz das kleinere Übel.

7. Wenn Dietenbach abgelehnt wird, muss St. Georgen dran glauben.
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Wenn Dietenbach nicht gebaut wird, müsste anderswo neue Baufläche gefunden werden. In der Schublade liegen Pläne für „St. Georgen-West“. Dietenbach abzulehnen, könnte das Problem also nur verschieben und Lösungen verzögern.

8. Ein „Nein“ zum Stadtteil kostet die Stadt Millionen.
Ja. Sechs Jahre Planung stecken bereits in Dietenbach. Viel wurde investiert. Die Ausgaben dürften satt siebenstellig sein. Wird Dietenbach abgelehnt – und viel später dann anderswo gebaut werden –, müsste das Prozedere neu aufgerollt werden. Das kostet wiederum Geld und Zeit. Selbst im neuen Viertel Dietenbach könnte vor 2026 keiner wohnen.

9. Dietenbachpark und Dietenbachsee müssen dran glauben.
Falsch. Auch wenn mit Dietenbach viele Park und See verbinden, das Gebiet im Viertel Weingarten bleibt erhalten. Der Stadtteil liegt zwischen Rieselfeld und Besançonallee. Dort fließt der Dietenbach. Auch Fans des ZMF müssen nicht besorgt sein. Eine Co-Existenz des Festivals neben dem Viertel ist zugesichert.

10. Die Fragestellung zum Bürger­entscheid wird Wähler verwirren.
Stimmt. Sie lautet: Soll das Dietenbachgebiet unbebaut bleiben? Wer also gegen den Bau ist, stimmt mit „Ja“. Wer für ein neues Viertel ist, kreuzt „Nein“ an. Diese Formulierung haben die Dietenbach-Gegner – juristisch abgesichert – durchgedrückt. Sie bestanden darauf, dass ihre Fragestellung für den erzwungenen Bürgerentscheid bestehen bleibt. Es wird nicht wenige geben, die das Gegenteil ihres Wunsches ankreuzen.

11. Bürgerentscheide sind keine gute Lösung bei so komplexen Themen.
Eine Frage der Perspektive. Das Quorum ist nicht niedrig: 20 Prozent der Wahlberechtigen – nicht der Wähler – müssen sich bei einem Bürgerentscheid für eine Seite entscheiden. Mehr direkte Demokratie wird von vielen Bürgern gewünscht. Dass sie zu Chaos führen können, zeigt aktuell der Brexit. In Emmendingen und Erlangen verhinderten Bürger neue Stadtquartiere, in Bamberg ein Gewerbegebiet. Welche Kommune könnte wohl ein neues Industriegebiet in die Wege leiten? Verantwortung für das große Ganze zu übernehmen fällt vielen Bürgern schwerer als der Politik.

Fotos: © bar, tln, Unsplash

Bühne frei für den Bürgerentscheid: Gewinnt die Landwirtschaft oder der Wohnraum?