Interview: Wenn Pendeln krank macht Gesundheit | 06.08.2019 | Tanja Senn

In Deutschland pendeln elf Millionen Menschen zur Arbeit. Das kann in Stress ausarten und sogar die Gesundheit gefährden, weiß Christoph Bielitz, Ärztlicher Direktor des Sigma-Zentrums Bad Säckingen.

Lust auf REGIO: Sie selbst pendeln regelmäßig die rund 700 Kilometer zwischen Leipzig und Bad Säckingen. Stresst Sie das?

Christoph Bleitz: Ich fahre zweimal im Monat mittwochabends nach Leipzig und sonntags wieder zurück. Ich mache das seit zwanzig Jahren und finde es überhaupt nicht schlimm.

Lust auf REGIO: Für viele Menschen ist das Pendeln aber durchaus mit Stress verbunden. Macht es dabei einen Unterschied, ob man mit dem Zug oder Auto fährt?

Ch. Bleitz: Das ist individuell sehr verschieden. Der eine fühlt sich im Auto wohler, der andere im Zug. Manche empfinden auch das Pendeln mit dem Fahrrad als belastend: Wenn jemand Angst vorm Radfahren hat, vielleicht immer wieder Schwindelanfälle bekommt oder mal einen Fahrradunfall hatte, dann wird ihn das auch stressen.

Lust auf REGIO: Dabei kann Pendeln doch auch entspannend sein: Auf der Heimfahrt hat man noch Zeit, die Arbeit im Kopf durchzugehen, und wenn man zu Hause ist, kann man abschalten.

Ch. Bleitz: Genau so ist es. Der Vorteil des Pendelns darf nicht unterschätzt werden: Man gewinnt Abstand. Wir wissen ja alle, dass räumlicher Abstand auch etwas mit der Wahrnehmung der beruflichen Belastung zu tun haben kann. Das Phänomen, dass man bei weiter Entfernung vom Arbeitsplatz das Gefühl hat, man ist weniger belastet, kennt man aus dem Urlaub. Wer das Pendeln allerdings nicht in sein Leben integrieren kann und es als nachhaltig störend empfindet, der sollte an einer Lösung arbeiten – wenn er es kann. Dann erspart man sich alle möglichen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Reizbarkeit oder Ängste.

Prof.-Dr.-Christoph-Bielitz

Pendelt selbst sehr gerne: der Ärztliche Direktor Christoph Bielitz.

Lust auf REGIO: Woher weiß man denn, dass das Pendeln an solchen Erkrankungen schuld ist und nicht nur der Stress bei der Arbeit?

Ch. Bleitz: Wir haben in der Psychiatrie ja ständig die Frage zu beantworten: Woher kommt eigentlich ein Symptom? Meistens ist es tatsächlich eine Gemengelage. Das Pendeln allein wird zum Beispiel niemals dafür verantwortlich sein, dass jemand eine Depression kriegt. Wenn allerdings jemand täglich stundenlang pendelt, ist das schon ein gewaltiger Risikofaktor. Wer acht Stunden arbeitet und vier Stunden im Auto sitzt, ist zwölf Stunden unterwegs – wann soll er sich da noch erholen? Das ist schwierig.

Lust auf REGIO: Gibt es eine tägliche Dauer, ab der Pendelfahrten gesundheitsschädlich werden können?

Ch. Bleitz: Nein, das ist individuell extrem verschieden. Manch einer fährt jeden Tag eineinhalb Stunden hin und wieder zurück und ist damit zufrieden. Andere fühlen sich schon genervt, wenn sie eine halbe Stunde Auto fahren müssen. Ich würde sagen, was über einer halben Stunde liegt, das kann schon mal kritisch werden, wenn man anfällig für Stress ist. Es gibt genaue Untersuchungen dazu, die Statistiken sind aus meiner Sicht aber überinterpretiert. Schließlich kommt es auch auf die Verkehrssituation an, auf die städtische oder ländliche Umgebung … Wenn Sie mal in Moskau waren und dort mit dem Auto pendeln mussten, dann lernen sie erst einmal kennen, was ein Stau ist – da haben wir in Deutschland goldige Verhältnisse.

Lust auf REGIO: Hilft es denn, wenn man die Zeit angenehm nutzt? Man kann ja im Auto einen Podcast hören oder im Zug ein Buch lesen …

Ch. Bleitz: Das ist genau der Punkt: Wie gehe ich damit um? Sieht der Arbeitnehmer das Pendeln als seine Zeit an, oder sieht er es als lästiges Übel, das ihn einfach nur nervt? Es macht ja keinen Sinn, sich über alles aufzuregen, sich permanent gestört zu fühlen und darüber wiederum ausufernd nachzugrübeln. Viel besser ist es doch, wenn wir das Positive sehen und die Zeit als nutzbringend betrachten. Bei mir ist es so, dass ich die Pendelzeit als äußerst interessant erlebe: Ich sehe andere Landschaften, ich kann Pläne machen, ich kann bestimmen, über was ich nachdenke, wen ich anrufe und welche Musik ich höre.

Foto: © iStock/markos86, Sigma-Zentrum