Pandemie-Politik polarisiert Freiburg: Warum die Gesellschaft auseinanderdriftet STADTGEPLAUDER | 21.02.2022 | Liliane Herzberg, Pascal Lienhard und Philip Thomas

Menschenmenge bei einer Coronademo

Freiburg hat sich zu einem Hotspot für Querdenker und Corona-Maßnahmenskeptiker·innen entwickelt. Auf den Demos läuft links neben rechts, zeigen Untersuchungen. Und auch auf der Gegenseite hat sich ein breites Bündnis gebildet. Die Parteien werfen einander Spaltung vor. Statt miteinander zu sprechen, schieben sich beide Lager die Schuld gegenseitig zu.

Am Freiburger Fahnenbergplatz wehen rote Herzen neben Deutschlandflaggen und bunten Transparenten. „Es gibt eine klare Spaltung. Die ist politisch und medial gemacht“, sagt eine 38-jährige Freiburgerin auf einer der größten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesrepublik Mitte Januar. „Die Diffamierung ist pervers, ein Grund zum Auswandern“, pflichtet ihr Begleiter bei. „Die Stimmung im Land ist aufgepeitscht, auf der Arbeit werde ich ausgegrenzt, nur weil ich ungeimpft bin“, erklärt eine 30-jährige Krankenpflegerin, der deswegen ein Tätigkeitsverbot am Freiburger Uniklinikum droht.

Nur wenige Hundert Meter weiter südlich, am Platz der Alten ­Synagoge, ist die Atmosphäre ebenfalls angespannt. „Nachdenken statt Querdenken“, ruft eine Gruppe junger Menschen auf der Gegendemo in die kalte Januarluft. „Diese Leute inszenieren sich als Opfer. Dabei wird die Spaltung doch von denen betrieben“, sagt ein 49-jähriger Freiburger. „Die Impfung ist ein Segen“, betont eine 46-Jährige. „Ich hätte auch gerne meine Grundrechte zurück, aber unser Verständnis von Freiheit ist ein anderes“, sagt ein 53-Jähriger.

Durch Deutschland geht ein Riss. Dabei hatte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung kurz vor Weihnachten noch die Einheit im Land beschworen: „Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.“ Ein Statement, das derzeit nur die wenigsten unterschreiben würden. „Viele Indikatoren zeigen, dass die Gesellschaft in Deutschland auseinanderdiffundiert. Ich würde das als gespalten bezeichnen“, sagt Uwe Wagschal vom Seminar für Wissenschaftliche Politik der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität.

Menschen bei einer Coronademo

Einer dieser Indikatoren sei die steigende Zahl politisch motivierter Verbrechen: Vergangenes Jahr wurden in Deutschland so viele Straftaten mit politischem Hintergrund begangen wie seit 2001 – dem Beginn der jährlichen Erfassung – nicht mehr: Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage hervorgeht, stieg die Zahl der politisch motivierten Straftaten 2021 nach vorläufigen Daten des Bundeskriminalamts im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent auf insgesamt 47.303 Delikte.

„Wir beobachten außerdem eine große ökonomische Ungleichheit“, so Wagschal. In der Krise hat sich soziale Ungerechtigkeit zugespitzt: Eine Mitte Januar veröffentlichte Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam geht davon aus, dass die zehn reichsten Deutschen ihr kumuliertes Vermögen seit Beginn der Pandemie von rund 126 Milliarden Euro auf etwa 234 Milliarden Euro gesteigert haben – ein Plus um fast 79 Prozent.

Angesichts solcher Zahlen vermisst Wagschal in der Krise glaubwürdige Führung: „Die Leute sind zunehmend verunsichert. Wissen nicht, welche Regeln gelten.“ Trotzdem steht die Mehrheit im Land hinter den Corona-Maßnahmen, die allerdings bröckelt. Im vergangenen Oktober hielten 60 Prozent der Befragten die Corona-Maßnahmen für angemessen, 25 Prozent gingen sie zu weit, 13 Prozent gingen sie nicht weit genug, lautete das Ergebnis einer Infratest-Umfrage mit rund 1300 Teilnehmenden.

Mehrheit im Land steht noch hinter Maßnahmen

„Allerdings beobachten wir, dass die Gruppe der Unzufriedenen wächst“, sagt Wagschal. Aktuell halten noch 44 Prozent die Regeln für angemessen, 31 Prozent gehen sie laut Folgebefragung zu weit, für 22 Prozent reichen die Maßnahmen nicht aus. Ein Fingerzeig für die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen ist für Wagschal die Impfquote. Zum Redaktionsschluss würden damit drei Viertel der deutschen Bevölkerung die Einschränkungen abnicken: 74,6 Prozent haben sich zwei Schutzimpfungen abgeholt, mehr als die Hälfte (55 Prozent) ist hierzulande geboostert.

Menschen und Polizei bei Coronademo

Unter Beobachtung: Maßnahmen-Gegner und Gegendemonstranten in Freiburg.

Laut einer Online-Erhebung mit 9234 Teilnehmern nach der Bundestagswahl am 26. September durch Wagschals Lehrstuhl wählten von den ungeimpften Befragten rund 39 Prozent die AfD, 18 Prozent gaben ihre Stimme bei der Bundestagswahl der Basis, darauf folgen FDP (10 Prozent), Linke (7 Prozent) und Grüne (5 Prozent). „Das ist ein breites Spektrum“, so Wagschal. Auf den Veranstaltungen mische sich grün, links, libertär, AfD-Klientel mit Reichsbürgern und Extremisten.

Die Unzufriedenen machen sich auf Deutschlands Straßen Luft: Insgesamt 260.000 Menschen nahmen laut Marek Wede, Sprecher des Bundesinnenministeriums, auf knapp 1300 Protestaktionen gegen die staatlichen Maßnahmen um den 10. Januar teil. „Eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, dass es in Deutschland rund 10.000 Kommunen gibt“, kommentiert Wagschal.

In Freiburg zählte die Polizei am 15. Januar bis zu 6000 Demonstrant·innen gegen die Maßnahmen. „Unsere Bewegung spiegelt die Mitte der Gesellschaft wider. Gegen Gewalt oder Extreme, sei es von rechts oder links, grenzen wir uns stets ab“, sagt „Siegrun“, Sprecherin der Organisation FreiSeinFreiburg, die hinter den Demos steht.

Die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis) in Freiburg stößt in ein ähnliches Horn. „Es geht darum, Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Pressefreiheit zu sichern“, so Jens Lettow, Vorstandsmitglied im Kreisverband Freiburg. Er spricht ebenfalls von Spaltung. Diese sei durch die Corona-Politik und Angst entstanden: „Täglich wird Angst durch Medien und bestimmte Politiker geschürt.“

Demotafel in einer Menschenmenge bei Coronademo

Auf der anderen Seite versammelte das Bündnis FreiVac gegen Verschwörungsideologie, Antisemitismus und Corona-Verharmlosung rund 3500 Menschen am 15. Januar in Freiburg. FreiVac-Mitgründer Sebastian Müller prangert innerhalb der Corona-Protestbewegung Personen und Gruppen am rechten Rand an: Seit zwei Jahren sammelt der ehemalige Stadtrat mit seinen Mitstreiter·innen Fotos von rechten Symbolen auf Freiburger Corona-Demonstrationen. Neben Provokationen wie Davidsternen handle es sich bei den Zeichen häufig um szenenspezifische Codes.

Eine vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage mit 3048 Teilnehmer·innen vom Oktober 2021 macht unter nicht Geimpften vier Typen aus: „Existenzleugner“: Personen, denen „eindeutige Beweise“ für das Vorhandensein des Virus bis heute fehlen. „Diktatur-Vermuter“: Menschen, die alternative Motive hinter den Maßnahmen sehen. Corona sei ein Vorwand, mehr staatliche Kontrolle zu erhalten.

Dazu kommen „Skeptiker“: Diese distanzieren sich von den Existenzleugner·innen und Diktatur-Vermuter·innen, stehen der Berichterstattung jedoch kritisch gegenüber. Nicht alle Stimmen aus der Wissenschaft werden ihrer Meinung nach gehört. Die Einschränkungen gegen das Virus seien schwerwiegender als das Virus selbst. Außerdem „Personen ohne Nähe zu Querdenkern“, die diesen Aussagen höchstens teilweise zustimmen.

Eine Impfpflicht werde laut Wagschal nur weiter polarisieren: „Bei Zwang reagieren Menschen in der Regel stark und emotional.“ Statt zu bestrafen, plädiert der Professor deswegen dafür, positive Anreize zu schaffen: „Als der SC Freiburg im August 1100 Freikarten zur Impfung verschenkt hat, kamen 3000 Menschen. Damit kriegt man die Leute. Und die Corona-Hilfen hätte man ans Impfen koppeln müssen.“

Porträt Uwe Wagschal

Mehr Dialog wagen: Das fordern die Experten Uwe Wagschal und Michael Wehner (u.).

Wagschal pocht auf mehr Austausch zwischen Gegnern und Befürworterinnen: „Die Unfähigkeit, im Umgang mit der Pandemie miteinander zu kommunizieren, ist schockierend.“ Die Ängste vieler Skeptiker·innen kann der Professor nachvollziehen: „Es ist bedenklich, mit welcher Rigorosität und Vehemenz einige Virologen und Politiker freiheitseinschränkende Maßnahmen durchsetzen wollen.“

Bisher friedlich in Freiburg

Auch Michael Wehner, Politik-Experte der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, versteht die Protesthaltung: „Das ist ein Stück weit normal.“ Es gehöre durchaus zu einer Demokratie, dass diese in Ausnahmesituationen infrage gestellt werde: „Zwei Jahre Pandemie mit Einschränkungen, teilweise von Grundrechten, sind eine Besonderheit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.“ In Freiburg blieb es bisher friedlich. Verbale Scharmützel habe es laut Polizeisprecher Michael Schorr indes auf beiden Seiten gegeben.

Im Gegensatz zu Wagschal sieht Wehner allerdings keine Spaltung: „Wir reden hier von ein oder zwei Prozent, nicht von 25 oder 30 Prozent.“ Der Corona-Protest bringe die deutsche Demokratie nicht ins Wanken und habe auch positive Seiten: „Es ist nicht systemgegnerisch, wenn sich zum Beispiel Parteien gründen oder existierende Parteien des Protestes ein Stück weit annehmen und dann in parlamentarische Bahnen lenken.“

Porträt Michael Wehner

Der Experte mahnt jedoch, wachsam zu bleiben. Es gebe in Deutschland Potenzial für Radikalisierung sowie Anzweiflung von Gewaltmonopolen und staatlichen Institutionen. „Umgekehrt muss es in einer Demokratie aber immer auch darum gehen, Minderheiten zu ihrem Recht kommen zu lassen, sie im Idealfall argumentativ zu überzeugen und nicht vorschnell in eine Ecke zu stellen.“

Das Band, das laut Wehner viele Skeptiker·innen eint, sei ein vermeintlich übergriffiger Staat: Bürger·innen haben das Gefühl, ihnen werden Verhaltensweisen aufgenötigt. „Individuelle Freiheit ist jedoch nicht grenzenlos“, sagt Wehner und appelliert: „Wir sollten uns bemühen, Debattenkultur zu pflegen und nicht glauben, eine moralisch höhere Position zu haben.“ Letztlich sei Politik der Aushandlungsprozess eines Konsenses. 

Von einem solchen sind beide Lager gerade weit entfernt. Der Diskurs ist festgefahren, die Fronten verhärtet. Und der Ton werde sich laut Konfliktforscher Wagschal noch verschärfen: „Ich sehe derzeit keine Möglichkeit, alle an einen Tisch zu kriegen.“

Fotos: © Philip Thomas, Maude Wagschal, Alex Dietrich