Blüten der Buchkunst: 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau Kunst & Kultur | 15.06.2024 | Erika Weisser

Ein Bild der Ausstellung mit einem großen Gemälde und prunkvollen liturgischen Objekten. Prunkvolle liturgische Objekte

Im Jahr 724 gründete der Wandermönch Pirmin auf der Reichenau im Bodensee ein Kloster, das sich in den folgenden drei Jahrhunderten zu einem wichtigen Wissenszentrum Europas entwickelte. Anlass für ein Jubiläumsjahr auf der Insel – und in Konstanz: Bis 20. Oktober ist dort im Archäologischen Landesmuseum die höchst informative Große Landesausstellung „Welterbe des Mittelalters“ zu sehen.

Im kirchenraumdunklen Saal sind einige Heiligen-Skulpturen versammelt, die durch die wohlgesetzte individuelle Beleuchtung mit warmem Licht wie Erscheinungen wirken. Und jede Figur weist ein Attribut auf, das mit erdachten oder verbürgten Ereignissen in ihrem Leben zu tun hat. So winden sich etwa um den Abstsstab des heiligen Pirmin zwei Schlangen, die sich von ihm wegbewegen: Der Legende nach soll er bei seiner Ankunft auf der Reichenau lediglich ein von „wilden Schlangen und sonstigem Gewürm“ bevölkertes Dickicht vorgefunden haben. Angesichts der Gottgesandtheit des Christianisierungsboten seien diese aber sofort ins Wasser geflüchtet und hätten die Oberfläche des Untersees drei Tage lang bedeckt.

Das Buch Codex Egberti

Neben prunkvollen liturgischen Objekten (g. o.) beeindrucken die vor mehr als 1000 Jahren im Skriptorium des Klosters Reichenau entstandenen Handschriften wie der Codex Egberti (o.), der zum UNESCO-Welt-dokumentenerbe zählt.

Welch überragende Stellung in der europäischen Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik des Mittelalters das spätere Benediktiner­kloster dereinst erlangen sollte, konnte der vermutlich aus Frankreich oder Irland stammende Mönch natürlich nicht ahnen, als er im heutigen Mittelzell die ersten Gebäude errichtete – sicherlich mit der Hilfe von Bewohnern der nachweislich seit dem 7. Jahrhundert von Menschen besiedelten Insel, die er später wieder verließ, um im süddeutschen Raum weitere Klöster zu gründen. Und heute, 1000 Jahre nach der Blütezeit des Reichenauer Klosters, wissen viele Menschen auch nichts mehr von dessen enormer kunsthistorischer und glaubensgeschichtlicher Bedeutung. Außer natürlich jene, die sich professionell mit der Reichenau beschäftigen.

Zu diesen gehört Eckart Köhne, der Leiter des Badischen Landesmuseums Karlsruhe, wo die Ausstellung konzipiert wurde. Dazu haben er und seine Projekt-Mitarbeiter viele ursprünglich auf der Insel beheimatete Reichtümer aus ganz Europa zusammengetragen. Unter diesen Schätzen sind vor allem einige der prachtvollen Handschriften, die die Mönche im 9., 10. und 11. Jahrhundert hier in einem eigenen Skriptorium mit Malschule fertigten. Diesen reich mit Illustra­tionen und Ornamenten verzierten Abhandlungen über theologische, aber auch weltliche und naturwissenschaftliche Themen verdankte das Kloster seinen besonderen Ruf, der den Äbten enge Beziehungen zu den damaligen europäischen Herrschern bescherte: Sie dienten sowohl den karolingischen als auch den ottonischen Kaisern als einflussreiche Berater, Kanzler oder Bischöfe.

Besondere Atmosphäre

Der Besuch der Ausstellung, die sich über zwei Etagen erstreckt, lohnt sich schon allein wegen dieser eindrücklichen und mit großer Perfektion verfassten Zeugnisse früher Buchkunst, die inzwischen zum UNESCO-Weltdokumenten­erbe gezählt werden. Ihnen ist auch die besondere Atmosphäre zu verdanken, die in den schön gestalteten, tief bordeauxrot oder schwarz gestrichenen Sälen herrscht und mit ihrem gedämpften Licht an dunkle Kirchen- oder Klosterräume erinnert. Die mehr als 1000 Jahre alten und in speziellen Vitrinen gelagerten Exponate, ist an der Zugangstür zu lesen, seien so empfindlich, dass sie bei zu viel Licht irreparablen Schaden erleiden würden. Wegen konservatorischer Bedenken sind deshalb auch so manche auf der Reichenau entstandenen Bücher, Schriften und Architekturpläne in Konstanz nicht im Original zu bewundern. Das gilt etwa für den St. Galler Klosterplan, der unter Federführung des Abts und Dichters Walahfrid Strabo (807–849) entstand, und in dem die Bauordnung für benediktinische Klöster festgelegt wurde.

Angesichts der 250 Objekte, die neben den Büchern kunstvoll geschnitzte Elfenbeinreliefs, silberne Reliquienschreine und -kreuze, edelsteinbesetzte Tragaltäre, außergewöhnliche Weihrauchgefäße und andere liturgische Gegenstände umfassen und einen guten Einblick in das Klosterleben bieten, ist das Fehlen dieses besonderen Dokuments jedoch verschmerzbar. Zumal es, wie auch das Verbrüderungsbuch, in dem sich 800 europäische Klöster verpflichten, um des Seelenheil von 38.000 Menschen – darunter diverse Machthaber – zu beten, in Saaltexten, Abbildungen und einem Video präsentiert wird.

Das Evangelistar von Poussay

An seinen Entstehungsort zurückgekehrt ist anlässlich der Ausstellung auch das Evangelistar von Poussay, dessen Buchdeckel (l.) mit Gold, Edelsteinen und Elfenbein gearbeitet ist.

Empfehlenswert ist außerdem ein Besuch der Insel, wo noch drei von einst 20 Kirchen von der Zeit zeugen, da die Reichenau hauptsächlich Klosterinsel war: in Mittelzell das heutige Münster mit der an Reliquiaren reichen Klosterschatzkammer und dem neu gestalteten Klostergarten, in Oberzell die Kirche St. Georg mit ottonischen Fresken und in Niederzell die Kirche St. Peter und Paul, in der ebenfalls mittelalterliche Wandmalereien entdeckt wurden. Sie bilden ein eigenes Unesco-Welt-Kulturerbe, dessen wechselvolle Geschichte im Inselmuseum bestens dokumentiert ist.

Info

Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau
bis 20. Oktober 2024
Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg
Benediktinerplatz 5
78467 Konstanz
www.ausstellung-reichenau.de

Fotos: © Badisches Landesmuseum, Fotograf: Uli Deck; Bibliothèque national de France