Guter Nährboden: Wie sich Freiburg zum Mekka der Fahrrad-Entwickler mausert business im Breisgau | 15.03.2023 | Till Neumann

Mann auf Fahrrad mit Fahrradanhänger auf dem noch mehr Fahrräder stehen

Die Mobilitätswende wird in Freiburg mit großen Pedaltritten vorangetrieben. 16 Millionen Euro hat das Rathaus zuletzt in bessere Infrastruktur investiert. Mit JobRad hat Freiburg den Marktführer in Sachen Leasingrad. Ganz nebenbei entwickelt sich der Breisgau auch zum Mekka für Innovation, Handel und Entwickler in Sachen Fahrrad. Wie kommt es, dass sich in und um Freiburg so viele Radverrückte tummeln? Was sagen sie zum jüngsten Paukenschlag? Und wie geht es Händlern nach den Corona-Engpässen?

Freiburg ist eine Fahrradstadt. Klar. Hier steigen viele aufs Velo. Aber Freiburg ist mittlerweile auch eine Radbusiness-Stadt. Immer mehr Velopioniere tummeln sich hier. Sie entwickeln Bremsen, Lastenräder oder Mountainbikes. Oft, ohne groß Aufsehen zu erregen. Zuletzt hat die Szene Verstärkung von Weltrang bekommen. Ein Big Player schlägt seine Zelte hier auf: Der US-Hersteller Specialized wird ein Innovation Center in der Lokhalle Freiburg am Güterbahnareal eröffnen. „Das wird das Fahrrad-Image Freiburgs in der Branche und darüber hinaus maßgeblich prägen“, jubelte Oberbürgermeister Martin Horn beim Pressetermin im Dezember.

75 Prototypen des Big Players

Leiten wird das Entwicklungszentrum Peter Denk: „Wir bauen hier eine High-End-Entwicklungswerkstatt insbesondere für die Entwicklung von Rennrad- und Mountainbike-Plattformen.“ Auf 3800 Quadratmetern soll von Mitte 2024 an neuen Techniken gefeilt werden. Mittelfristig sollen hier rund 75 Prototypen entstehen, lässt Denk wissen. Zudem wird ein Racing-Team dazugeholt. Es kann Entwicklungen in und um Freiburg unmittelbar testen.

Thomas Ketterer auf einem der Fahrräder

Thomas Ketterer

Nur rund einen Kilometer Luftlinie entfernt hat Fahrradfreak Thomas Ketterer sein Quartier aufgeschlagen. Der 55-Jährige ist Entwickler von Lastenrädern, seine Firma Roc-Ket Cargo Bikes wurde gerade mit dem Freiburger Klimaschutzpreis „Climate First“ ausgezeichnet. 2000 Euro Preisgeld gibt es für „emissionsfreie Lieferungen im Stadtgebiet“. Durch die klimafreundliche Anlieferung und Abholung von Last werden täglich rund 3,5 Tonnen Ware emissionsfrei im Raum Freiburg transportiert, lobt die Stadtverwaltung. Die eigens dafür produzierten Lastenfahrräder sparten so täglich etwa sieben Tonnen CO2 ein.

Ketterers Basis an der Neunlindenstraße ist schwer zu übersehen: Vor dem Gebäude tummeln sich Lastenräder und Elektrolieferwagen, Bewegung ist hier fast immer. Ketterer sagt trotzdem: „Freiburg ist eine Fahrradstadt, aber keine Lastenradstadt.“ Seine Lieferanten würden in der Innenstadt behandelt wie 7,5-Tonner. Denn Lieferungen im Innenstadtbereich nach 11 Uhr vormittags sind auch für seine Gefährte untersagt. „Das kann nicht sein“, schimpft Ketterer.

Vom Entwickeln neuer Techniken hält ihn das nicht ab. Mit zwei Ingenieuren versucht er einen Schritt voraus zu sein. Aktuell geht es um Dachkonstruktionen für mehr Fahrerschutz bei Lastenrädern. Und darum, Dächer mit Solartechnik auszustatten. Außerdem sollen automatische Bremsen konstruiert werden. „Die gehen zu, wenn man sich vom Rad entfernt“, erklärt Ketterer.

„Jetzt hole ich unseren neuesten Gag“, sagt der Freiburger und steigt auf ein bulliges blau-gelbes Bike. Zum Rangieren kann es rückwärts fahren – und hinten eine Palette mit bis zu 300 Kilo laden. Wie einfach das geht, zeigt Ketterer mit wenigen Handgriffen. Mit einer Kurbel dreht er die Tragarme zum Boden. Ist die Palette drauf, kurbelt er wieder hoch. Auch eine patentierte Neigetechnik für Kurven kommt aus seinem Hause.

Was sein Team entwickelt, wird bei Lastenfahrten auf Herz und Nieren geprüft: „Freiburg ist ganz gut zum Testen“, sagt er. Sein Team fahre zwar nicht den Schauinsland hoch, aber ein paar Steigungen nehme man gerne mit. Drei Teilzeitkräfte beschäftigt er aktuell. Dazu rund zehn Fahrer auf Minijobbasis. Tendenz steigend. Der Anspruch bei Roc-Ket ist klar: „Wir wollen tolle Fahrräder bauen, um Marktführer zu sein.“ Ein Neuankömmling wie Specialized könne da nur helfen. „Das ist wirklich gut“, schwärmt Ketterer. Er wisse zwar noch nicht im Detail, was das seiner Firma bringe, aber er werde Angebote machen. „Elektronik, Akku, Rahmenteile …“

»Mit dem nötigen Herzblut»

Angetan von der namhaften Verstärkung ist auch Markus Bergmann von Carla Cargo. „Es scheint sich rumgesprochen zu haben, dass man in Freiburg ganz gute Entwickler mit dem nötigen Herzblut für die Sache bekommt, so wie Cannondale das ja auch schon lange macht“, sagt der Geschäftsführer der Firma, deren E-Anhänger um die Welt gehen. Bis nach New York haben es die mit Strom angetriebenen Radanhänger aus Kenzingen geschafft.

Markus Bergmann

Markus Bergmann

„Freiburg und seine Umgebung sind ein sehr guter Nährboden für grüne Ideen“, schwärmt der 39-Jährige. Das spüre sein Team auch an den vielfältigen Unternehmungen, die mit Hilfe der Carla Cargo Lastenanhänger umgesetzt werden. „Die Anhänger werden extrem vielfältig benutzt, zum Beispiel für die Auslieferung von Paketen und Gemüsekisten“, so Bergmann. Sie kämen zudem zum Einsatz für mobile Infotheken, Küchen, Soundanlagen oder Kaffeestände, beim Transport im Werksgelände oder als Forschungsvorhaben. Bergmann fällt auf, „dass bei unseren Kund·innen viele Pioniere der ersten Stunde dabei sind“. Sie hätten von Anfang an das Thema klimafreundlicher Transport mit in ihre Überlegungen eingebracht und letztlich auf die Carla-Anhänger gesetzt.

Vom Südwesten aus hat die Firma eine rasante Entwicklung erlebt. Mehr als 2500 ihrer Lastenanhänger fahren mittlerweile durch die Welt, berichtet Bergmann. In Freiburg schätzt er die Zahl auf 50. „Wer mit wachsamem Auge durch Freiburg geht, kann täglich eine Carla im Einsatz sehen“, sagt Bergmann. Das mache das Team stolz, da die Firmengeschichte hier gemeinsam mit der Gartencoop begonnen habe.

Nördlich von Freiburg, in Gundelfingen, sitzt mit der Firma Supernova ein Hidden Champion, der Fahrradlampen im Hochpreissegment baut. Dort ist auch bereits seit 2005 Tout Terrain am Markt. Die 30-köpfige Crew wird in diesem Jahr mehr als 3500 Trekkingräder und Mountainbikes produzieren. Weiter südlich, in Buggingen, sitzt mit Tune ein Spezialist für Leichtbaukomponenten wie Naben oder Laufräder. Oder auch der Bremsenspezialist Trickstuff in Pfaffenweiler. Dort arbeiten 30 Beschäftigte in einer Radmarkt-Nische. Auf dem Ganter-Areal in Freiburg entwickelt zudem die Cycling Sports Group ebenfalls Fahrradtechnik für den Hersteller Cannondale aus den USA.

Können zu viele Entwickler auf einem Fleck zur Konkurrenz werden? Nein, sagt Bergmann. „Wir finden das eher bereichernd für uns und die Region, da dadurch ein sehr guter Nährboden für jegliche klimafreundliche Unternehmung geschaffen wird, von welchem alle profitieren können.“ Von der Stadt wünscht er sich mehr Mut zur Förderung alternativer Mobilität: „In dem Moment, wo der Innenstadtbereich noch restriktiver für auf Verbrennungsmotoren basierenden Lieferverkehr wird, ist es noch attraktiver, auf klimafreundliche Transportlösungen wie Lastenanhänger und Cargobikes zu setzen.“ Da sei jetzt schon ein internationaler Trend zu erkennen. Bergmann fordert: „Freiburg sollte als Ökostadt auch als solche international wahrgenommen werden – das Amsterdam oder Kopenhagen von Deutschland sozusagen.“

Mehr Mut zum Umbau wünscht sich auch Roman Heim. Der 39-Jährige ist Chef von Freiburgs größtem Fahrradladen „Hild Radwelt“. Freiburg sei zwar eine Radstadt und aktiv dabei, die Infrastruktur aufzuwerten. Aber das reicht ihm nicht: „Zu viele unsichere Fahrradwege sorgen dafür, dass viele nicht aufs Rad steigen.“ Es brauche mehr vom Pkw-Verkehr abgetrennte Radwege, übersichtlichere Kreuzungen und bessere Infrastruktur, um ein hochwertiges E-Bike vernünftig in der Innenstadt abzustellen.

Die Corona-Krise hat seine Branche zuletzt hart getroffen. Zwar stieg das Radinteresse erst mal exponentiell an. Doch dann mussten Kunden wegen Lieferengpässen monatelang auf Räder oder Ersatzteile warten. Kein schöner Moment für Handelnde, die zuverlässig sein möchten. „Die Lage ist vielschichtig“, sagt Heim. Lieferschwierigkeiten habe es in den vergangenen zwei Jahren oft gegeben. Das reiße dann auch mal eine Umsatzlücke. Der Andrang stabilisiere sich jetzt aber auf ein normales Vor-Corona-Niveau.

»Teurere Modelle sind gefragt«

Für die vergangenen beiden Jahre hat er einen Umsatzzuwachs von 14 Prozent errechnet. Zwei Faktoren führten zum Anstieg: der E-Bike-Boom und das Leasing. „Teurere Modelle sind gefragt“, sagt Heim. Der Anteil an hochwertigen und zuverlässigen Modellen für den Alltag steige. Für ein E-Bike geben Kunden bei ihm im Schnitt 3000 Euro aus. Für herkömmliche Räder seien es 700 Euro. Auch hier ist die Tendenz steigend. Das liege an der allgemeinen Kostensteigerung, aber auch an Innovation. Die Branche sei erfinderisch, Räder würden zunehmend digitalisiert und mit Sensoren ausgestattet.

Roman Heim

Roman Heim

Ist es für ihn ein Vorteil, in einer Radboomstadt zu handeln? „Nein, eher nicht“, sagt Heim. Es seien viele Mitbewerber vor Ort, auch kleinere, spezialisierte Geschäfte. „Das Händlerumfeld ist extrem“, fasst Heim zusammen.

Ein Mitbewerber ist Franco Orlando, Chef von Bike Sport World. Er hat im Dezember und Januar testweise einen Rad-Pop-up-Store in der Freiburger Innenstadt betrieben und damit keine gute Erfahrung gemacht. Das führt er aber auf die allgemeinen Probleme der Freiburger Innenstadt zurück. „Nicht umsonst steht hier alles leer“, sagt er mit Blick auf den zunehmenden Leerstand und die Debatte um die Erreichbarkeit der Fußgängerzone.

In seinem Laden an der Schwarzwaldstraße laufe es dafür rund. „Im Januar haben sie uns die Bude eingerannt“, erzählt der 50-Jährige. Freiburg schätzt er als „mords fahrradaffin“ ein, die Stadt sei eine wahre Insel für Velofans. Die vergangenen Jahre waren auch für ihn turbulent. „Corona war ein Booster“, sagt Orlando. Die Nachfrage sei extrem gewesen, die Lieferengpässe wahnsinnig. Doch mit einem gut gefüllten Lager habe sein Team das ordentlich überstanden.

Franco Orlando mit dem Fahrrad

Setzt aufs Rad: Franco Orlando von Bike Sport World

Um rund 100 Prozent habe er den Absatz in den vergangenen fünf Jahren steigern können, berichtet Orlando. Auch er nennt E-Bikes und Leasing als die entscheidenden Faktoren. „Das beschert uns viele Kunden.“ Die Räder würden teurer und die Kunden kämen schon nach drei Jahren wieder, um ihr zweites oder drittes Rad zu leasen.

Freiburg nennt er ein Mountainbike- und Rennradparadies. „Wir haben die besten Trails hier“, sagt Orlando. Nicht ohne Grund seien daher Gravelbikes die am meisten verkauften Räder. Also sportliche Crossallrounder. Rund 4000 Euro lassen Kunden bei ihm im Schnitt für ein Velo. Auffällig dabei: „Es sind nicht selten über 10.000 Euro für ein Rad“, berichtet Orlando. S-Works-Rennräder der Marke Specialized gehen bei ihm für 15.000 Euro über die Theke. „Die sind immer als Erstes weg“, berichtet Orlando. Früher seien solche Preise eine Ausnahme gewesen. Heute wundere er sich über fünfstellige Beträge nicht mehr.

Foto: © Carla Cargo, Till Neumann, ZVG